und Leserinnen bekannte Gebilde erkennen werden, sollen uns darüber verständigen, was Flechten sind. Fig. 1. ist die isländische Flechte, Cetraria islandica, welche uns den bekannten Thee für Brustleidende liefert; Fig. 2. ist die Rennthierflechte,Cladonia rangiferina, welche fast allein den Bewohnern der Polarländer den Genuß der Milch und die übrigen Vortheile der Rennthierzucht vermittelt, da dieses wichtige Thier vorzugsweise von dieser Flechte lebt.
Es ist namentlich der Gebirgswaldboden, auf welchem die Flechten- welt sich ansiedelt. Den fruchtbaren Lehmboden der Waldblößen oder frisch geräumter Schläge sehen wir im Vorgebirge, da wo er vollkommen bloß gelegt worden war, zuerst von der Flechtenwelt wieder verhüllt werden, wenn ihr nicht einige kleine Moose noch zuvorgekommen sind. Oft sehen wir solche Stellen ganz weiß gefärbt, als habe eben des Fabeldichters Anne Marthe hier ihren hoffnungsseligen Luftsprung gemacht und ihren Milchtopf verschüttet. Wenn man solche Stellen genauer betrachtet, so findet man einen grauweißen, trockenen käsigen Ueberzug. Es ist entweder blos der Anfang einer Flechte oder sie ist bereits vollständig ausgebildet. Im letzteren Falle finden wir darauf kleinen Hutpilzen täuschend ähn- liche Gebilde, auf weißem Stielchen einen rosenrothen Hut tragend. Es ist die Knotenschwammflechte,Baeomyces roseus, die erste Colonistin auf dem verfügbar gewordenen Waldboden. Unsere Fig. 3. zeigt uns diese sonderbare Flechte.
Wie keine andere Pflanzenklasse unserer heimathlichen Flora sind die Flechten mit ihrem Nahrungsbedürfniß fast lediglich an die in der Luft vertheilte Feuchtigkeit gewiesen, während ihr Wurzelboden ihnen kaum mehr ist als der Ankergrund, auf welchem sie ruhen, ohne aus ihm mit ihren Wurzelhaaren, die eben nur Haftorgane sind, Nahrung zu saugen. Die Flechten sind daher auch wahre Feuchtigkeitsmesser, an welchen sich jede Veränderung in dem Feuchtigkeitsgehalt der Luft ausdrückt. Gehen wir in thauiger Morgenkühle durch einen Fichtenbestand, dessen Boden oft in großen Strecken mit den bis 8 und 10 Zoll hohen grauweißen tausendfach verzweigten Büschchen der Rennthierflechte (I. 2.) bedeckt sind, so machen sie als schwellende weiche Polster unsere Tritte unhörbar, indem sie, weich und schmiegsam, sich hinter unserem Fuße schnell wieder aufrichten. Hat aber die steigende Sonne den Feuchtigkeitsgehalt der Luft vermindert, so
Roßmäßler, der Wald. 3
und Leſerinnen bekannte Gebilde erkennen werden, ſollen uns darüber verſtändigen, was Flechten ſind. Fig. 1. iſt die isländiſche Flechte, Cetraria islandica, welche uns den bekannten Thee für Bruſtleidende liefert; Fig. 2. iſt die Rennthierflechte,Cladonia rangiferina, welche faſt allein den Bewohnern der Polarländer den Genuß der Milch und die übrigen Vortheile der Rennthierzucht vermittelt, da dieſes wichtige Thier vorzugsweiſe von dieſer Flechte lebt.
Es iſt namentlich der Gebirgswaldboden, auf welchem die Flechten- welt ſich anſiedelt. Den fruchtbaren Lehmboden der Waldblößen oder friſch geräumter Schläge ſehen wir im Vorgebirge, da wo er vollkommen bloß gelegt worden war, zuerſt von der Flechtenwelt wieder verhüllt werden, wenn ihr nicht einige kleine Mooſe noch zuvorgekommen ſind. Oft ſehen wir ſolche Stellen ganz weiß gefärbt, als habe eben des Fabeldichters Anne Marthe hier ihren hoffnungsſeligen Luftſprung gemacht und ihren Milchtopf verſchüttet. Wenn man ſolche Stellen genauer betrachtet, ſo findet man einen grauweißen, trockenen käſigen Ueberzug. Es iſt entweder blos der Anfang einer Flechte oder ſie iſt bereits vollſtändig ausgebildet. Im letzteren Falle finden wir darauf kleinen Hutpilzen täuſchend ähn- liche Gebilde, auf weißem Stielchen einen roſenrothen Hut tragend. Es iſt die Knotenſchwammflechte,Baeomyces roseus, die erſte Coloniſtin auf dem verfügbar gewordenen Waldboden. Unſere Fig. 3. zeigt uns dieſe ſonderbare Flechte.
Wie keine andere Pflanzenklaſſe unſerer heimathlichen Flora ſind die Flechten mit ihrem Nahrungsbedürfniß faſt lediglich an die in der Luft vertheilte Feuchtigkeit gewieſen, während ihr Wurzelboden ihnen kaum mehr iſt als der Ankergrund, auf welchem ſie ruhen, ohne aus ihm mit ihren Wurzelhaaren, die eben nur Haftorgane ſind, Nahrung zu ſaugen. Die Flechten ſind daher auch wahre Feuchtigkeitsmeſſer, an welchen ſich jede Veränderung in dem Feuchtigkeitsgehalt der Luft ausdrückt. Gehen wir in thauiger Morgenkühle durch einen Fichtenbeſtand, deſſen Boden oft in großen Strecken mit den bis 8 und 10 Zoll hohen grauweißen tauſendfach verzweigten Büſchchen der Rennthierflechte (I. 2.) bedeckt ſind, ſo machen ſie als ſchwellende weiche Polſter unſere Tritte unhörbar, indem ſie, weich und ſchmiegſam, ſich hinter unſerem Fuße ſchnell wieder aufrichten. Hat aber die ſteigende Sonne den Feuchtigkeitsgehalt der Luft vermindert, ſo
Roßmäßler, der Wald. 3
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und Leſerinnen bekannte Gebilde erkennen werden, ſollen uns darüber
verſtändigen, was Flechten ſind. Fig. 1. iſt die isländiſche Flechte,
Cetraria islandica, welche uns den bekannten Thee für Bruſtleidende
liefert; Fig. 2. iſt die Rennthierflechte, Cladonia rangiferina, welche
faſt allein den Bewohnern der Polarländer den Genuß der Milch und
die übrigen Vortheile der Rennthierzucht vermittelt, da dieſes wichtige
Thier vorzugsweiſe von dieſer Flechte lebt.
Es iſt namentlich der Gebirgswaldboden, auf welchem die Flechten-
welt ſich anſiedelt. Den fruchtbaren Lehmboden der Waldblößen oder friſch
geräumter Schläge ſehen wir im Vorgebirge, da wo er vollkommen bloß
gelegt worden war, zuerſt von der Flechtenwelt wieder verhüllt werden,
wenn ihr nicht einige kleine Mooſe noch zuvorgekommen ſind. Oft ſehen
wir ſolche Stellen ganz weiß gefärbt, als habe eben des Fabeldichters
Anne Marthe hier ihren hoffnungsſeligen Luftſprung gemacht und ihren
Milchtopf verſchüttet. Wenn man ſolche Stellen genauer betrachtet, ſo
findet man einen grauweißen, trockenen käſigen Ueberzug. Es iſt entweder
blos der Anfang einer Flechte oder ſie iſt bereits vollſtändig ausgebildet.
Im letzteren Falle finden wir darauf kleinen Hutpilzen täuſchend ähn-
liche Gebilde, auf weißem Stielchen einen roſenrothen Hut tragend. Es
iſt die Knotenſchwammflechte, Baeomyces roseus, die erſte Coloniſtin
auf dem verfügbar gewordenen Waldboden. Unſere Fig. 3. zeigt uns
dieſe ſonderbare Flechte.
Wie keine andere Pflanzenklaſſe unſerer heimathlichen Flora ſind die
Flechten mit ihrem Nahrungsbedürfniß faſt lediglich an die in der Luft
vertheilte Feuchtigkeit gewieſen, während ihr Wurzelboden ihnen kaum mehr
iſt als der Ankergrund, auf welchem ſie ruhen, ohne aus ihm mit ihren
Wurzelhaaren, die eben nur Haftorgane ſind, Nahrung zu ſaugen. Die
Flechten ſind daher auch wahre Feuchtigkeitsmeſſer, an welchen ſich jede
Veränderung in dem Feuchtigkeitsgehalt der Luft ausdrückt. Gehen wir
in thauiger Morgenkühle durch einen Fichtenbeſtand, deſſen Boden oft in
großen Strecken mit den bis 8 und 10 Zoll hohen grauweißen tauſendfach
verzweigten Büſchchen der Rennthierflechte (I. 2.) bedeckt ſind, ſo machen
ſie als ſchwellende weiche Polſter unſere Tritte unhörbar, indem ſie, weich
und ſchmiegſam, ſich hinter unſerem Fuße ſchnell wieder aufrichten. Hat
aber die ſteigende Sonne den Feuchtigkeitsgehalt der Luft vermindert, ſo
Roßmäßler, der Wald. 3
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/57>, abgerufen am 22.12.2024.
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