Während ich diese, für den nach "festen Formen" Verlangenden wenig tröstliche, Schilderung der Rüstern schreibe, steht gerade die Rüstern- belaubung nach Eintritt des Johannistriebes in der höchsten Vollkommen- heit und zahlreiche Ausflüge, blos zum Zwecke der Enträthfelung der zahl- reichen Rüsternformen gemacht, führten mich in dem Formenlabyrinthe auch zu einem mittlen Baum, an dessen unterstem Aste fußlange Adventiv- sprossen aus dem alten Holze mit noch hellgrünen Blättern auffielen. Die übrigen älteren Blätter waren sehr schief und auf der Oberseite fast ganz kahl, während die neuen Blätter kaum eine Spur von Schiefheit, viel tiefer eingeschnitten gezähnten Rand und eine sehr rauhborstliche Ober- seite zeigten.
Verursacht es nun auch allerdings ein gewisses Mißbehagen, solche Wandelformen nicht sicher unter einen Artbegriff bringen zu können, so ist doch am Ende weniger Dieses als vielmehr Das die Aufgabe der Naturforschung, die Formen des Lebens an sich kennen zu lernen; die Natur ist nicht verpflichtet, nur lauter "gute Arten" zu machen, damit wir es hübsch leicht haben. Die Schwierigkeit der Artbestimmung wird bei den Rüstern noch dadurch wesentlich vermehrt, daß man jeden Baum zu verschiedenen Zeiten dreimal besuchen muß: im Blüthen-, im Frucht- und in dem Zustande der vollkommen ausgebildeten Belaubung, was eine genaue Bezeichnung der Bäume zum Zwecke des Wiederfindens erfordert. Bei nicht blühendem Stockausschlag ist man noch schlimmer daran, weil man mit ihm auf das so außerordentlich vielgestaltige Blatt beschränkt ist. Ueber die Art der Wurzelschößlinge kann nur eine, leider beinahe unaus- führbare, Nachweisung des Wurzelzusammenhangs mit dem Mutterbaume aus der Noth helfen.
Dies Alles kann und darf meine Leser nicht abschrecken; es soll und wird ihnen vielmehr Lust machen, in diesem schönen Formenlabyrinthe den leitenden Faden aufzusuchen. Ob an diesem Faden U. glabra Miller, U. montana Smith, U. tortuosa Host, U. tiliaefolia Host, U. coryli- folia Host, U. major Smith wirklich feste Art-Stationen bezeichnen oder nicht, lassen wir dahingestellt und betrachten nur noch die Flatterrüster als eine in allen Zuständen leicht zu unterscheidende Art.
Während ich dieſe, für den nach „feſten Formen“ Verlangenden wenig tröſtliche, Schilderung der Rüſtern ſchreibe, ſteht gerade die Rüſtern- belaubung nach Eintritt des Johannistriebes in der höchſten Vollkommen- heit und zahlreiche Ausflüge, blos zum Zwecke der Enträthfelung der zahl- reichen Rüſternformen gemacht, führten mich in dem Formenlabyrinthe auch zu einem mittlen Baum, an deſſen unterſtem Aſte fußlange Adventiv- ſproſſen aus dem alten Holze mit noch hellgrünen Blättern auffielen. Die übrigen älteren Blätter waren ſehr ſchief und auf der Oberſeite faſt ganz kahl, während die neuen Blätter kaum eine Spur von Schiefheit, viel tiefer eingeſchnitten gezähnten Rand und eine ſehr rauhborſtliche Ober- ſeite zeigten.
Verurſacht es nun auch allerdings ein gewiſſes Mißbehagen, ſolche Wandelformen nicht ſicher unter einen Artbegriff bringen zu können, ſo iſt doch am Ende weniger Dieſes als vielmehr Das die Aufgabe der Naturforſchung, die Formen des Lebens an ſich kennen zu lernen; die Natur iſt nicht verpflichtet, nur lauter „gute Arten“ zu machen, damit wir es hübſch leicht haben. Die Schwierigkeit der Artbeſtimmung wird bei den Rüſtern noch dadurch weſentlich vermehrt, daß man jeden Baum zu verſchiedenen Zeiten dreimal beſuchen muß: im Blüthen-, im Frucht- und in dem Zuſtande der vollkommen ausgebildeten Belaubung, was eine genaue Bezeichnung der Bäume zum Zwecke des Wiederfindens erfordert. Bei nicht blühendem Stockausſchlag iſt man noch ſchlimmer daran, weil man mit ihm auf das ſo außerordentlich vielgeſtaltige Blatt beſchränkt iſt. Ueber die Art der Wurzelſchößlinge kann nur eine, leider beinahe unaus- führbare, Nachweiſung des Wurzelzuſammenhangs mit dem Mutterbaume aus der Noth helfen.
Dies Alles kann und darf meine Leſer nicht abſchrecken; es ſoll und wird ihnen vielmehr Luſt machen, in dieſem ſchönen Formenlabyrinthe den leitenden Faden aufzuſuchen. Ob an dieſem Faden U. glabra Miller, U. montana Smith, U. tortuosa Host, U. tiliaefolia Host, U. coryli- folia Host, U. major Smith wirklich feſte Art-Stationen bezeichnen oder nicht, laſſen wir dahingeſtellt und betrachten nur noch die Flatterrüſter als eine in allen Zuſtänden leicht zu unterſcheidende Art.
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Während ich dieſe, für den nach „feſten Formen“ Verlangenden
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belaubung nach Eintritt des Johannistriebes in der höchſten Vollkommen-
heit und zahlreiche Ausflüge, blos zum Zwecke der Enträthfelung der zahl-
reichen Rüſternformen gemacht, führten mich in dem Formenlabyrinthe
auch zu einem mittlen Baum, an deſſen unterſtem Aſte fußlange Adventiv-
ſproſſen aus dem alten Holze mit noch hellgrünen Blättern auffielen. Die
übrigen älteren Blätter waren ſehr ſchief und auf der Oberſeite faſt ganz
kahl, während die neuen Blätter kaum eine Spur von Schiefheit, viel
tiefer eingeſchnitten gezähnten Rand und eine ſehr rauhborſtliche Ober-
ſeite zeigten.
Verurſacht es nun auch allerdings ein gewiſſes Mißbehagen, ſolche
Wandelformen nicht ſicher unter einen Artbegriff bringen zu können, ſo
iſt doch am Ende weniger Dieſes als vielmehr Das die Aufgabe der
Naturforſchung, die Formen des Lebens an ſich kennen zu lernen; die
Natur iſt nicht verpflichtet, nur lauter „gute Arten“ zu machen, damit
wir es hübſch leicht haben. Die Schwierigkeit der Artbeſtimmung wird
bei den Rüſtern noch dadurch weſentlich vermehrt, daß man jeden Baum
zu verſchiedenen Zeiten dreimal beſuchen muß: im Blüthen-, im Frucht-
und in dem Zuſtande der vollkommen ausgebildeten Belaubung, was eine
genaue Bezeichnung der Bäume zum Zwecke des Wiederfindens erfordert.
Bei nicht blühendem Stockausſchlag iſt man noch ſchlimmer daran, weil
man mit ihm auf das ſo außerordentlich vielgeſtaltige Blatt beſchränkt iſt.
Ueber die Art der Wurzelſchößlinge kann nur eine, leider beinahe unaus-
führbare, Nachweiſung des Wurzelzuſammenhangs mit dem Mutterbaume
aus der Noth helfen.
Dies Alles kann und darf meine Leſer nicht abſchrecken; es ſoll und
wird ihnen vielmehr Luſt machen, in dieſem ſchönen Formenlabyrinthe
den leitenden Faden aufzuſuchen. Ob an dieſem Faden U. glabra Miller,
U. montana Smith, U. tortuosa Host, U. tiliaefolia Host, U. coryli-
folia Host, U. major Smith wirklich feſte Art-Stationen bezeichnen oder
nicht, laſſen wir dahingeſtellt und betrachten nur noch die Flatterrüſter
als eine in allen Zuſtänden leicht zu unterſcheidende Art.
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Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/523>, abgerufen am 23.12.2024.
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