6. Der Bau und das Leben des Baumes. (2. Das Leben.)
Da steh ich, ein entlaubter Stamm, Doch innen im Marke lebt die schaffende Gewalt.
Wenn die Winterszeit überstanden ist und das gefesselte Leben sich im Laubwalde wieder regt und wie aus Millionen gesprengter Kerkerzellen das junge Grün aus den Knospen hervortreibt -- da schauen wir fragend auf die scheinbar erstorbenen Leiber der borkenumpanzerten Bäume und auf den Boden, auf dem wir neben ihnen stehen, was es wohl sei, was diesen Zauber bewirkt. Dann fallen uns obige Worte Schillers ein und wir rechten jetzt auch nicht mit ihm, daß er diesen Zauber dem Marke zuschreibt, von dem wir wissen, daß es in der Pflanze keine weittragende Kraft, am allerwenigsten eine verjüngende Gewalt besitzt.
Die Macht des gestaltenden Lebens können wir zwar auch bei den Pflanzen nicht in dem Momente ihres Schaffens sehen: wir sehen nur das, was bereits da ist, niemals den Moment des Werdens. Dennoch bilden wir uns ein, im Frühjahrserwachen des Baumes einen schöpferischen Akt zu belauschen und das vergeistigt unsere Freude daran. Wenn wir auch nicht vermögen, auch nicht mit den besten Hülfsmitteln der spähenden Wissenschaft, diese Selbsttäuschung zu einer Wahrheit zu machen, so wissen wir doch, nachdem wir früher dem Bau der Baumknospen eine eingehende Aufmerksamkeit geschenkt haben, daß wir uns die Freude über die Knospen- entfaltung erhöhen können, wenn wir kurz vor dem Eintritt derselben eine Knospe zergliedern, um zu sehen, wie die kleinen vorgebildeten
9*
6. Der Bau und das Leben des Baumes. (2. Das Leben.)
Da ſteh ich, ein entlaubter Stamm, Doch innen im Marke lebt die ſchaffende Gewalt.
Wenn die Winterszeit überſtanden iſt und das gefeſſelte Leben ſich im Laubwalde wieder regt und wie aus Millionen geſprengter Kerkerzellen das junge Grün aus den Knospen hervortreibt — da ſchauen wir fragend auf die ſcheinbar erſtorbenen Leiber der borkenumpanzerten Bäume und auf den Boden, auf dem wir neben ihnen ſtehen, was es wohl ſei, was dieſen Zauber bewirkt. Dann fallen uns obige Worte Schillers ein und wir rechten jetzt auch nicht mit ihm, daß er dieſen Zauber dem Marke zuſchreibt, von dem wir wiſſen, daß es in der Pflanze keine weittragende Kraft, am allerwenigſten eine verjüngende Gewalt beſitzt.
Die Macht des geſtaltenden Lebens können wir zwar auch bei den Pflanzen nicht in dem Momente ihres Schaffens ſehen: wir ſehen nur das, was bereits da iſt, niemals den Moment des Werdens. Dennoch bilden wir uns ein, im Frühjahrserwachen des Baumes einen ſchöpferiſchen Akt zu belauſchen und das vergeiſtigt unſere Freude daran. Wenn wir auch nicht vermögen, auch nicht mit den beſten Hülfsmitteln der ſpähenden Wiſſenſchaft, dieſe Selbſttäuſchung zu einer Wahrheit zu machen, ſo wiſſen wir doch, nachdem wir früher dem Bau der Baumknospen eine eingehende Aufmerkſamkeit geſchenkt haben, daß wir uns die Freude über die Knospen- entfaltung erhöhen können, wenn wir kurz vor dem Eintritt derſelben eine Knospe zergliedern, um zu ſehen, wie die kleinen vorgebildeten
9*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0155"n="[131]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">6.<lb/>
Der Bau und das Leben des Baumes.</hi><lb/>
(2. Das Leben.)</head><lb/><lgtype="poem"><l>Da ſteh ich, ein entlaubter Stamm,</l><lb/><l>Doch innen im Marke lebt die ſchaffende Gewalt.</l></lg><lb/><p>Wenn die Winterszeit überſtanden iſt und das gefeſſelte Leben ſich<lb/>
im Laubwalde wieder regt und wie aus Millionen geſprengter Kerkerzellen<lb/>
das junge Grün aus den Knospen hervortreibt — da ſchauen wir fragend<lb/>
auf die ſcheinbar erſtorbenen Leiber der borkenumpanzerten Bäume und<lb/>
auf den Boden, auf dem wir neben ihnen ſtehen, was es wohl ſei, was<lb/>
dieſen Zauber bewirkt. Dann fallen uns obige Worte Schillers ein und<lb/>
wir rechten jetzt auch nicht mit ihm, daß er dieſen Zauber dem Marke<lb/>
zuſchreibt, von dem wir wiſſen, daß es in der Pflanze keine weittragende<lb/>
Kraft, am allerwenigſten eine verjüngende Gewalt beſitzt.</p><lb/><p>Die Macht des geſtaltenden Lebens können wir zwar auch bei den<lb/>
Pflanzen nicht in dem Momente ihres Schaffens ſehen: wir ſehen nur<lb/>
das, was bereits da iſt, niemals den Moment des Werdens. Dennoch<lb/>
bilden wir uns ein, im Frühjahrserwachen des Baumes einen ſchöpferiſchen<lb/>
Akt zu belauſchen und das vergeiſtigt unſere Freude daran. Wenn wir<lb/>
auch nicht vermögen, auch nicht mit den beſten Hülfsmitteln der ſpähenden<lb/>
Wiſſenſchaft, dieſe Selbſttäuſchung zu einer Wahrheit zu machen, ſo wiſſen<lb/>
wir doch, nachdem wir früher dem Bau der Baumknospen eine eingehende<lb/>
Aufmerkſamkeit geſchenkt haben, daß wir uns die Freude über die Knospen-<lb/>
entfaltung erhöhen können, wenn wir kurz vor dem Eintritt derſelben<lb/>
eine Knospe zergliedern, um zu ſehen, wie die kleinen vorgebildeten<lb/><fwplace="bottom"type="sig">9*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[131]/0155]
6.
Der Bau und das Leben des Baumes.
(2. Das Leben.)
Da ſteh ich, ein entlaubter Stamm,
Doch innen im Marke lebt die ſchaffende Gewalt.
Wenn die Winterszeit überſtanden iſt und das gefeſſelte Leben ſich
im Laubwalde wieder regt und wie aus Millionen geſprengter Kerkerzellen
das junge Grün aus den Knospen hervortreibt — da ſchauen wir fragend
auf die ſcheinbar erſtorbenen Leiber der borkenumpanzerten Bäume und
auf den Boden, auf dem wir neben ihnen ſtehen, was es wohl ſei, was
dieſen Zauber bewirkt. Dann fallen uns obige Worte Schillers ein und
wir rechten jetzt auch nicht mit ihm, daß er dieſen Zauber dem Marke
zuſchreibt, von dem wir wiſſen, daß es in der Pflanze keine weittragende
Kraft, am allerwenigſten eine verjüngende Gewalt beſitzt.
Die Macht des geſtaltenden Lebens können wir zwar auch bei den
Pflanzen nicht in dem Momente ihres Schaffens ſehen: wir ſehen nur
das, was bereits da iſt, niemals den Moment des Werdens. Dennoch
bilden wir uns ein, im Frühjahrserwachen des Baumes einen ſchöpferiſchen
Akt zu belauſchen und das vergeiſtigt unſere Freude daran. Wenn wir
auch nicht vermögen, auch nicht mit den beſten Hülfsmitteln der ſpähenden
Wiſſenſchaft, dieſe Selbſttäuſchung zu einer Wahrheit zu machen, ſo wiſſen
wir doch, nachdem wir früher dem Bau der Baumknospen eine eingehende
Aufmerkſamkeit geſchenkt haben, daß wir uns die Freude über die Knospen-
entfaltung erhöhen können, wenn wir kurz vor dem Eintritt derſelben
eine Knospe zergliedern, um zu ſehen, wie die kleinen vorgebildeten
9*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Roßmäßler, Emil Adolf: Der Wald. Leipzig u. a., 1863, S. [131]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rossmaessler_wald_1863/155>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.