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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

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Fünfte Betr. Die Bereitwilligkeit
den entsteht. Manche bilden sich ein, das hieße
seine Sünden bereuen, wenn man Gebete oder Be-
trachtungen voll ängstlicher Ausdrücke, und beweg-
licher Ausrufungen lese, und wider seinen Willen
eine traurige, melancholische Gemüthsverfaßung
bey sich zu erzwingen suche. Aber die Erfahrung
lehrt, daß manche Menschen, eben zu der Zeit,
wenn sie eine solche vermeinte Reue zu empfinden
scheinen, durch ihr Betragen selbst beweisen, wie
wenig ihr Herz gerühret sey. In dieser Stunde
weinen sie, weil ein Bußgebet, oder Bußbetrach-
tung, oder auch ein rührendes Lied ihr Gemüth be-
wegt hat. Und gleich hernach, oder auch noch in
eben derselben Stunde mag ihnen nur das Gering-
ste in den Weg kommen, so begehen sie eben die
Sünden, die sie zu bereuen vorgeben, ohne alles
Bedenken, und glauben vielleicht nicht einmahl,
daß sie Unrecht gethan haben. Wie ungereimt ist
das aber, wenn der Betrieger sagt, er bereue sein
Unrecht, und in der nemlichen Minute betriegt;
wenn der Lieblose sagt, er bereue, daß er so viele
seiner Mitbrüder hülflos gelaßen habe, und in dem
nemlichen Augenblick einem Verlaßenen die gering-
ste Gefälligkeit versagt; wenn der Jähzornige vor-
giebt, es thue ihm Leid, daß er in der Hitze seiner
Leidenschaft denen die um ihn waren, oft zu viel
gethan, und in der nemlichen Stunde durch seine
ungestümme Hitze einen Unschuldigen martert; wenn
der Rachsüchtige zu bedauern scheint, daß er so oft
über eine Kleinigkeit gegen seinen Nebenmenschen
erbittert worden, oder wegen einer geringen Belei-
digung sich auf eine unbarmherzige Weise gerochen

hat,

Fünfte Betr. Die Bereitwilligkeit
den entſteht. Manche bilden ſich ein, das hieße
ſeine Sünden bereuen, wenn man Gebete oder Be-
trachtungen voll ängſtlicher Ausdrücke, und beweg-
licher Ausrufungen leſe, und wider ſeinen Willen
eine traurige, melancholiſche Gemüthsverfaßung
bey ſich zu erzwingen ſuche. Aber die Erfahrung
lehrt, daß manche Menſchen, eben zu der Zeit,
wenn ſie eine ſolche vermeinte Reue zu empfinden
ſcheinen, durch ihr Betragen ſelbſt beweiſen, wie
wenig ihr Herz gerühret ſey. In dieſer Stunde
weinen ſie, weil ein Bußgebet, oder Bußbetrach-
tung, oder auch ein rührendes Lied ihr Gemüth be-
wegt hat. Und gleich hernach, oder auch noch in
eben derſelben Stunde mag ihnen nur das Gering-
ſte in den Weg kommen, ſo begehen ſie eben die
Sünden, die ſie zu bereuen vorgeben, ohne alles
Bedenken, und glauben vielleicht nicht einmahl,
daß ſie Unrecht gethan haben. Wie ungereimt iſt
das aber, wenn der Betrieger ſagt, er bereue ſein
Unrecht, und in der nemlichen Minute betriegt;
wenn der Liebloſe ſagt, er bereue, daß er ſo viele
ſeiner Mitbrüder hülflos gelaßen habe, und in dem
nemlichen Augenblick einem Verlaßenen die gering-
ſte Gefälligkeit verſagt; wenn der Jähzornige vor-
giebt, es thue ihm Leid, daß er in der Hitze ſeiner
Leidenſchaft denen die um ihn waren, oft zu viel
gethan, und in der nemlichen Stunde durch ſeine
ungeſtümme Hitze einen Unſchuldigen martert; wenn
der Rachſüchtige zu bedauern ſcheint, daß er ſo oft
über eine Kleinigkeit gegen ſeinen Nebenmenſchen
erbittert worden, oder wegen einer geringen Belei-
digung ſich auf eine unbarmherzige Weiſe gerochen

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[58/0070] Fünfte Betr. Die Bereitwilligkeit den entſteht. Manche bilden ſich ein, das hieße ſeine Sünden bereuen, wenn man Gebete oder Be- trachtungen voll ängſtlicher Ausdrücke, und beweg- licher Ausrufungen leſe, und wider ſeinen Willen eine traurige, melancholiſche Gemüthsverfaßung bey ſich zu erzwingen ſuche. Aber die Erfahrung lehrt, daß manche Menſchen, eben zu der Zeit, wenn ſie eine ſolche vermeinte Reue zu empfinden ſcheinen, durch ihr Betragen ſelbſt beweiſen, wie wenig ihr Herz gerühret ſey. In dieſer Stunde weinen ſie, weil ein Bußgebet, oder Bußbetrach- tung, oder auch ein rührendes Lied ihr Gemüth be- wegt hat. Und gleich hernach, oder auch noch in eben derſelben Stunde mag ihnen nur das Gering- ſte in den Weg kommen, ſo begehen ſie eben die Sünden, die ſie zu bereuen vorgeben, ohne alles Bedenken, und glauben vielleicht nicht einmahl, daß ſie Unrecht gethan haben. Wie ungereimt iſt das aber, wenn der Betrieger ſagt, er bereue ſein Unrecht, und in der nemlichen Minute betriegt; wenn der Liebloſe ſagt, er bereue, daß er ſo viele ſeiner Mitbrüder hülflos gelaßen habe, und in dem nemlichen Augenblick einem Verlaßenen die gering- ſte Gefälligkeit verſagt; wenn der Jähzornige vor- giebt, es thue ihm Leid, daß er in der Hitze ſeiner Leidenſchaft denen die um ihn waren, oft zu viel gethan, und in der nemlichen Stunde durch ſeine ungeſtümme Hitze einen Unſchuldigen martert; wenn der Rachſüchtige zu bedauern ſcheint, daß er ſo oft über eine Kleinigkeit gegen ſeinen Nebenmenſchen erbittert worden, oder wegen einer geringen Belei- digung ſich auf eine unbarmherzige Weiſe gerochen hat,

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Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/70>, abgerufen am 24.11.2024.