Die Erfahrung lehret, daß uns die Ausübung der Tugend durch nichts so schwer gemacht wird, als durch die unordentlichen Begierden und Leidenschaften, die in uns befindlich sind. Wir sehen zum öftern gar wohl ein, was recht oder un- recht ist, und wir nehmen uns vielleichtrecht ernst- lich vor, den guten Lehren und Ermahnungen, die wir gehört oder gelesen haben; nachzukom- men. Aber ehe wir es uns versehen, werden wir von unsern Begierden und Leidenschaften so dahin- gerißen, daß wir gerade das Gegentheil von dem- ienigen thun, was wir uns zu thun vorgenommen hatten. Und wenn wir auch alle mögliche Mühe anwenden, über unsere bösen Begierden den Sieg zu erhalten, so werden wir es doch nie so weit brin- gen, daß wir alle Regungen des Zorns, des Ei- gensinnes, der Rache, des Neides, der Unkeusch- heit unterdrücken, und verhüten könnten, daß nicht zu einer bösen Stunde eine oder die andere unordentliche Begierde sich unserer Vernunft gleich- sam bemächtigen, und in die wirkliche That aus- brechen sollte.
So ist denn kein Unterschied zwischen dem Tugendhaften und Lasterhaften, möchte Jemand hiebey denken; denn ein ieder folget seinen Lieblings- neigungen, von welchen er oft wieder seinen Wil- len hingerißen wird, dasienige zu thun, was seine gesunde Vernunft verdammt, nachdem der Sturm der Leidenschaften sich geleget hat -- Ich antwor- te: Es ist allerdings ein sehr großer Unterschied zwischen einem wahren Christen, und einen La- sterhaften, und diesen merklichen, wichtigen Unter-
schied
Beherrſchung unſ. ſündl. Begierden.
Die Erfahrung lehret, daß uns die Ausübung der Tugend durch nichts ſo ſchwer gemacht wird, als durch die unordentlichen Begierden und Leidenſchaften, die in uns befindlich ſind. Wir ſehen zum öftern gar wohl ein, was recht oder un- recht iſt, und wir nehmen uns vielleichtrecht ernſt- lich vor, den guten Lehren und Ermahnungen, die wir gehört oder geleſen haben; nachzukom- men. Aber ehe wir es uns verſehen, werden wir von unſern Begierden und Leidenſchaften ſo dahin- gerißen, daß wir gerade das Gegentheil von dem- ienigen thun, was wir uns zu thun vorgenommen hatten. Und wenn wir auch alle mögliche Mühe anwenden, über unſere böſen Begierden den Sieg zu erhalten, ſo werden wir es doch nie ſo weit brin- gen, daß wir alle Regungen des Zorns, des Ei- genſinnes, der Rache, des Neides, der Unkeuſch- heit unterdrücken, und verhüten könnten, daß nicht zu einer böſen Stunde eine oder die andere unordentliche Begierde ſich unſerer Vernunft gleich- ſam bemächtigen, und in die wirkliche That aus- brechen ſollte.
So iſt denn kein Unterſchied zwiſchen dem Tugendhaften und Laſterhaften, möchte Jemand hiebey denken; denn ein ieder folget ſeinen Lieblings- neigungen, von welchen er oft wieder ſeinen Wil- len hingerißen wird, dasienige zu thun, was ſeine geſunde Vernunft verdammt, nachdem der Sturm der Leidenſchaften ſich geleget hat — Ich antwor- te: Es iſt allerdings ein ſehr großer Unterſchied zwiſchen einem wahren Chriſten, und einen La- ſterhaften, und dieſen merklichen, wichtigen Unter-
ſchied
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Beherrſchung unſ. ſündl. Begierden.
Die Erfahrung lehret, daß uns die Ausübung
der Tugend durch nichts ſo ſchwer gemacht
wird, als durch die unordentlichen Begierden und
Leidenſchaften, die in uns befindlich ſind. Wir
ſehen zum öftern gar wohl ein, was recht oder un-
recht iſt, und wir nehmen uns vielleichtrecht ernſt-
lich vor, den guten Lehren und Ermahnungen, die
wir gehört oder geleſen haben; nachzukom-
men. Aber ehe wir es uns verſehen, werden wir
von unſern Begierden und Leidenſchaften ſo dahin-
gerißen, daß wir gerade das Gegentheil von dem-
ienigen thun, was wir uns zu thun vorgenommen
hatten. Und wenn wir auch alle mögliche Mühe
anwenden, über unſere böſen Begierden den Sieg
zu erhalten, ſo werden wir es doch nie ſo weit brin-
gen, daß wir alle Regungen des Zorns, des Ei-
genſinnes, der Rache, des Neides, der Unkeuſch-
heit unterdrücken, und verhüten könnten, daß
nicht zu einer böſen Stunde eine oder die andere
unordentliche Begierde ſich unſerer Vernunft gleich-
ſam bemächtigen, und in die wirkliche That aus-
brechen ſollte.
So iſt denn kein Unterſchied zwiſchen dem
Tugendhaften und Laſterhaften, möchte Jemand
hiebey denken; denn ein ieder folget ſeinen Lieblings-
neigungen, von welchen er oft wieder ſeinen Wil-
len hingerißen wird, dasienige zu thun, was ſeine
geſunde Vernunft verdammt, nachdem der Sturm
der Leidenſchaften ſich geleget hat — Ich antwor-
te: Es iſt allerdings ein ſehr großer Unterſchied
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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/219>, abgerufen am 18.07.2024.
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