Endlich: Die Liebe verträget alles; sie glaubet alles; sie hoffet alles; sie dultet alles. Sie verträget alles, oder vielmehr, sie beurthei- let alles auf das gelindeste, und siehet es sehr ger- ne, wenn die Fehler anderer Menschen mit gutem Grunde entschuldiget werden können. Freylich ist dieses, so wie das Folgende unter gewißen Ein- schränkungen zu verstehen. Bisweilen ist es ganz offenbar, daß sich unser Nebenmensch vergangen hat, daß er boshaft und gottlos ist, und uns nur zu kränken sucht. Ihn auch da noch entschuldigen wollen, wo seine Bosheit offenbar am Tage liegt, würde Einfalt und Unverstand seyn. Aber das werden wir thun, wenn wir unsern Nächsten auf- richtig lieben: Wir werden recht sehr wünschen, daß sein Fehler geringer seyn möchte, als er uns von andern vorgestellt worden, und wir ihn selbst uns vor- gestellt hatten. Wir werden alles das, was zu seiner Vertheidigung und Ehrenrettung gesagt wer- den kan, sorgfältig aufsuchen, und überlegen, und uns freuen, wenn wir finden, daß er entweder ganz unschuldig, oder doch sein Fehler mehr aus Uebereilung, und Schwachheit des Verstandes, als aus Bosheit des Herzens herrührte. Wir werden immer geneigter seyn, das Gute zu glau- ben, welches wir von ihm hören, als das Böse, welches ihm nachgesagt wird. Sollten wir uns auch bisweilen in unserer guten Meinung betriegen, und von iemanden, dem wir zu viel Gutes zuge- trauet, hintergangen werden, so ist es doch immer beßer, wir leiden Unrecht, als daß wir uns den quälenden Vorwurf machen müßen, unserm Näch-
sten
Dreyzehnte Betr. Von der Liebe
Endlich: Die Liebe verträget alles; ſie glaubet alles; ſie hoffet alles; ſie dultet alles. Sie verträget alles, oder vielmehr, ſie beurthei- let alles auf das gelindeſte, und ſiehet es ſehr ger- ne, wenn die Fehler anderer Menſchen mit gutem Grunde entſchuldiget werden können. Freylich iſt dieſes, ſo wie das Folgende unter gewißen Ein- ſchränkungen zu verſtehen. Bisweilen iſt es ganz offenbar, daß ſich unſer Nebenmenſch vergangen hat, daß er boshaft und gottlos iſt, und uns nur zu kränken ſucht. Ihn auch da noch entſchuldigen wollen, wo ſeine Bosheit offenbar am Tage liegt, würde Einfalt und Unverſtand ſeyn. Aber das werden wir thun, wenn wir unſern Nächſten auf- richtig lieben: Wir werden recht ſehr wünſchen, daß ſein Fehler geringer ſeyn möchte, als er uns von andern vorgeſtellt worden, und wir ihn ſelbſt uns vor- geſtellt hatten. Wir werden alles das, was zu ſeiner Vertheidigung und Ehrenrettung geſagt wer- den kan, ſorgfältig aufſuchen, und überlegen, und uns freuen, wenn wir finden, daß er entweder ganz unſchuldig, oder doch ſein Fehler mehr aus Uebereilung, und Schwachheit des Verſtandes, als aus Bosheit des Herzens herrührte. Wir werden immer geneigter ſeyn, das Gute zu glau- ben, welches wir von ihm hören, als das Böſe, welches ihm nachgeſagt wird. Sollten wir uns auch bisweilen in unſerer guten Meinung betriegen, und von iemanden, dem wir zu viel Gutes zuge- trauet, hintergangen werden, ſo iſt es doch immer beßer, wir leiden Unrecht, als daß wir uns den quälenden Vorwurf machen müßen, unſerm Näch-
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[204/0216]
Dreyzehnte Betr. Von der Liebe
Endlich: Die Liebe verträget alles; ſie
glaubet alles; ſie hoffet alles; ſie dultet alles.
Sie verträget alles, oder vielmehr, ſie beurthei-
let alles auf das gelindeſte, und ſiehet es ſehr ger-
ne, wenn die Fehler anderer Menſchen mit gutem
Grunde entſchuldiget werden können. Freylich iſt
dieſes, ſo wie das Folgende unter gewißen Ein-
ſchränkungen zu verſtehen. Bisweilen iſt es ganz
offenbar, daß ſich unſer Nebenmenſch vergangen
hat, daß er boshaft und gottlos iſt, und uns nur
zu kränken ſucht. Ihn auch da noch entſchuldigen
wollen, wo ſeine Bosheit offenbar am Tage liegt,
würde Einfalt und Unverſtand ſeyn. Aber das
werden wir thun, wenn wir unſern Nächſten auf-
richtig lieben: Wir werden recht ſehr wünſchen, daß
ſein Fehler geringer ſeyn möchte, als er uns von
andern vorgeſtellt worden, und wir ihn ſelbſt uns vor-
geſtellt hatten. Wir werden alles das, was zu
ſeiner Vertheidigung und Ehrenrettung geſagt wer-
den kan, ſorgfältig aufſuchen, und überlegen, und
uns freuen, wenn wir finden, daß er entweder
ganz unſchuldig, oder doch ſein Fehler mehr aus
Uebereilung, und Schwachheit des Verſtandes,
als aus Bosheit des Herzens herrührte. Wir
werden immer geneigter ſeyn, das Gute zu glau-
ben, welches wir von ihm hören, als das Böſe,
welches ihm nachgeſagt wird. Sollten wir uns
auch bisweilen in unſerer guten Meinung betriegen,
und von iemanden, dem wir zu viel Gutes zuge-
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beßer, wir leiden Unrecht, als daß wir uns den
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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/216>, abgerufen am 18.07.2024.
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