er bey aller Gelegenheit von seinen vermeinten Vor- zügen und Thaten spricht, da es gemeiniglich Klei- nigkeiten sind, worauf er sich so viel zu Gute thut. Aber dergleichen Personen verrathen eben damit auch eine große Lieblosigkeit, in dem sie alle andere mit stolzer Verachtung ansehen, und ihnen die ge- bührende Achtung versagen.
Sie stellet sich nicht ungeberdig, ist nicht ungesittet. Es giebt Leute, die das Vertraulich- keit nennen, wenn sie alle Regeln der Höflichkeit gegen andere ihres Gleichen aus den Augen setzen, und sich alles erlauben, was ihnen nur in den Sinn kommt. Das heist nicht Liebe; denn diese ist allezeit mit Achtung verbunden, welche die Vor- züge des Nebenmenschen erkennt, und sich durch äußerliche Merkmahle an den Tag legt. Und wer wohl gar uns etwas zumuthen kan, was dem Wohl- stande und guten Sitten zuwider ist, der muß sich entweder einen schlechten Begriff von unserer Tu- gend machen, oder sich vorgenommen haben, uns zum Laster unter dem Schein der Freundschaft zu verführen.
Sie suchet nicht das Ihre, ist nicht eigen- nützig. Es ist uns nicht untersagt, unsere wahre Wohlfarth zu befördern, und auf unsere eigenen Vortheile bedacht zu seyn. Aber was soll man von denen denken, die keinem Menschen eine Gefällig- keit oder Wohlthat erweisen, wo sie nicht eine Ver- geltung dafür erwarten können? die bey einem ie- den Schritt, den sie zum Besten eines andern thun sollen, fragen: Was wird mir dafür? und, wenn sie nichts dafür zu erwarten haben, weder
Hand
N 4
des Nächſten.
er bey aller Gelegenheit von ſeinen vermeinten Vor- zügen und Thaten ſpricht, da es gemeiniglich Klei- nigkeiten ſind, worauf er ſich ſo viel zu Gute thut. Aber dergleichen Perſonen verrathen eben damit auch eine große Liebloſigkeit, in dem ſie alle andere mit ſtolzer Verachtung anſehen, und ihnen die ge- bührende Achtung verſagen.
Sie ſtellet ſich nicht ungeberdig, iſt nicht ungeſittet. Es giebt Leute, die das Vertraulich- keit nennen, wenn ſie alle Regeln der Höflichkeit gegen andere ihres Gleichen aus den Augen ſetzen, und ſich alles erlauben, was ihnen nur in den Sinn kommt. Das heiſt nicht Liebe; denn dieſe iſt allezeit mit Achtung verbunden, welche die Vor- züge des Nebenmenſchen erkennt, und ſich durch äußerliche Merkmahle an den Tag legt. Und wer wohl gar uns etwas zumuthen kan, was dem Wohl- ſtande und guten Sitten zuwider iſt, der muß ſich entweder einen ſchlechten Begriff von unſerer Tu- gend machen, oder ſich vorgenommen haben, uns zum Laſter unter dem Schein der Freundſchaft zu verführen.
Sie ſuchet nicht das Ihre, iſt nicht eigen- nützig. Es iſt uns nicht unterſagt, unſere wahre Wohlfarth zu befördern, und auf unſere eigenen Vortheile bedacht zu ſeyn. Aber was ſoll man von denen denken, die keinem Menſchen eine Gefällig- keit oder Wohlthat erweiſen, wo ſie nicht eine Ver- geltung dafür erwarten können? die bey einem ie- den Schritt, den ſie zum Beſten eines andern thun ſollen, fragen: Was wird mir dafür? und, wenn ſie nichts dafür zu erwarten haben, weder
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des Nächſten.
er bey aller Gelegenheit von ſeinen vermeinten Vor-
zügen und Thaten ſpricht, da es gemeiniglich Klei-
nigkeiten ſind, worauf er ſich ſo viel zu Gute thut.
Aber dergleichen Perſonen verrathen eben damit
auch eine große Liebloſigkeit, in dem ſie alle andere
mit ſtolzer Verachtung anſehen, und ihnen die ge-
bührende Achtung verſagen.
Sie ſtellet ſich nicht ungeberdig, iſt nicht
ungeſittet. Es giebt Leute, die das Vertraulich-
keit nennen, wenn ſie alle Regeln der Höflichkeit
gegen andere ihres Gleichen aus den Augen ſetzen,
und ſich alles erlauben, was ihnen nur in den
Sinn kommt. Das heiſt nicht Liebe; denn dieſe
iſt allezeit mit Achtung verbunden, welche die Vor-
züge des Nebenmenſchen erkennt, und ſich durch
äußerliche Merkmahle an den Tag legt. Und wer
wohl gar uns etwas zumuthen kan, was dem Wohl-
ſtande und guten Sitten zuwider iſt, der muß ſich
entweder einen ſchlechten Begriff von unſerer Tu-
gend machen, oder ſich vorgenommen haben, uns
zum Laſter unter dem Schein der Freundſchaft zu
verführen.
Sie ſuchet nicht das Ihre, iſt nicht eigen-
nützig. Es iſt uns nicht unterſagt, unſere wahre
Wohlfarth zu befördern, und auf unſere eigenen
Vortheile bedacht zu ſeyn. Aber was ſoll man von
denen denken, die keinem Menſchen eine Gefällig-
keit oder Wohlthat erweiſen, wo ſie nicht eine Ver-
geltung dafür erwarten können? die bey einem ie-
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ſollen, fragen: Was wird mir dafür? und,
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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/211>, abgerufen am 18.07.2024.
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