Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

Bild:
<< vorherige Seite

Neunte Betr. Jesus Christus der gröste
die etwas solches sich überreden können, überlegen
nicht, was für widersprechende Dinge sie glauben.
Wenn sie anders das Neue Testament mit Verstand
gelesen haben, so müßen sie gestehen, daß die Denk-
ungsart Jesu Christi, die erhabenste und edelste
war, die sich nur denken läßt, daß nie ein Mensch
auf Erden gelebt hat, deßen Charakter so erhaben,
uneigennützig, menschenfreundlich und göttlich
Groß war, als der Seinige. Das müßen sie be-
kennen, wenn sie den Nachrichten der Evangelisten
auch nur eine menschliche Glaubwürdigkeit zugeste-
hen. Und wollen sie nicht einmahl dieses, so müs-
sen sie wieder den unbegreiflichen Satz annehmen,
daß ungelehrte Leute, und arme Fischer selbst einen
Charakter hätten erdichten und aussinnen können,
den die allergrösten Weisen und Gelehrten, die
vor und nach ihnen gelebt haben, nicht feiner und
künstlicher hätten aussinnen können. Heist das
nicht die allerwunderbarsten Dinge glauben, indem
man andere Wunder verwerfen will? Nein, un-
möglich läßt es sich denken, daß Leute deren Ehr-
lichkeit, und gerade Einfalt aus allen ihren Schrif-
ten hervorleuchtet, daß diese ein so außerordentlich
künstliches Gewebe von Unwahrheiten hätten ver-
fertigen können. Es ist vielmehr höchstglaublich,
daß Jesus von Nazareth der edeldenkende, recht-
schaffene, untadelhafte Mann war, für den ihn
die Jünger ausgeben. Und dieser erhabene, red-
liche Menschenfreund, dieses liebenswürdige Mu-
ster aller Tugenden und Vollkommenheiten soll doch
wieder auf der andern Seite etwas von sich selbst
behauptet haben, welches offenbar falsch war?

der

Neunte Betr. Jeſus Chriſtus der gröſte
die etwas ſolches ſich überreden können, überlegen
nicht, was für widerſprechende Dinge ſie glauben.
Wenn ſie anders das Neue Teſtament mit Verſtand
geleſen haben, ſo müßen ſie geſtehen, daß die Denk-
ungsart Jeſu Chriſti, die erhabenſte und edelſte
war, die ſich nur denken läßt, daß nie ein Menſch
auf Erden gelebt hat, deßen Charakter ſo erhaben,
uneigennützig, menſchenfreundlich und göttlich
Groß war, als der Seinige. Das müßen ſie be-
kennen, wenn ſie den Nachrichten der Evangeliſten
auch nur eine menſchliche Glaubwürdigkeit zugeſte-
hen. Und wollen ſie nicht einmahl dieſes, ſo müſ-
ſen ſie wieder den unbegreiflichen Satz annehmen,
daß ungelehrte Leute, und arme Fiſcher ſelbſt einen
Charakter hätten erdichten und ausſinnen können,
den die allergröſten Weiſen und Gelehrten, die
vor und nach ihnen gelebt haben, nicht feiner und
künſtlicher hätten ausſinnen können. Heiſt das
nicht die allerwunderbarſten Dinge glauben, indem
man andere Wunder verwerfen will? Nein, un-
möglich läßt es ſich denken, daß Leute deren Ehr-
lichkeit, und gerade Einfalt aus allen ihren Schrif-
ten hervorleuchtet, daß dieſe ein ſo außerordentlich
künſtliches Gewebe von Unwahrheiten hätten ver-
fertigen können. Es iſt vielmehr höchſtglaublich,
daß Jeſus von Nazareth der edeldenkende, recht-
ſchaffene, untadelhafte Mann war, für den ihn
die Jünger ausgeben. Und dieſer erhabene, red-
liche Menſchenfreund, dieſes liebenswürdige Mu-
ſter aller Tugenden und Vollkommenheiten ſoll doch
wieder auf der andern Seite etwas von ſich ſelbſt
behauptet haben, welches offenbar falſch war?

der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0144" n="132"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Neunte Betr. Je&#x017F;us Chri&#x017F;tus der grö&#x017F;te</hi></fw><lb/>
die etwas &#x017F;olches &#x017F;ich überreden können, überlegen<lb/>
nicht, was für wider&#x017F;prechende Dinge &#x017F;ie glauben.<lb/>
Wenn &#x017F;ie anders das Neue Te&#x017F;tament mit Ver&#x017F;tand<lb/>
gele&#x017F;en haben, &#x017F;o müßen &#x017F;ie ge&#x017F;tehen, daß die Denk-<lb/>
ungsart Je&#x017F;u Chri&#x017F;ti, die erhaben&#x017F;te und edel&#x017F;te<lb/>
war, die &#x017F;ich nur denken läßt, daß nie ein Men&#x017F;ch<lb/>
auf Erden gelebt hat, deßen Charakter &#x017F;o erhaben,<lb/>
uneigennützig, men&#x017F;chenfreundlich und göttlich<lb/>
Groß war, als der Seinige. Das müßen &#x017F;ie be-<lb/>
kennen, wenn &#x017F;ie den Nachrichten der Evangeli&#x017F;ten<lb/>
auch nur eine men&#x017F;chliche Glaubwürdigkeit zuge&#x017F;te-<lb/>
hen. Und wollen &#x017F;ie nicht einmahl die&#x017F;es, &#x017F;o mü&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en &#x017F;ie wieder den unbegreiflichen Satz annehmen,<lb/>
daß ungelehrte Leute, und arme Fi&#x017F;cher &#x017F;elb&#x017F;t einen<lb/>
Charakter hätten erdichten und aus&#x017F;innen können,<lb/>
den die allergrö&#x017F;ten Wei&#x017F;en und Gelehrten, die<lb/>
vor und nach ihnen gelebt haben, nicht feiner und<lb/>
kün&#x017F;tlicher hätten aus&#x017F;innen können. Hei&#x017F;t das<lb/>
nicht die allerwunderbar&#x017F;ten Dinge glauben, indem<lb/>
man andere Wunder verwerfen will? Nein, un-<lb/>
möglich läßt es &#x017F;ich denken, daß Leute deren Ehr-<lb/>
lichkeit, und gerade Einfalt aus allen ihren Schrif-<lb/>
ten hervorleuchtet, daß die&#x017F;e ein &#x017F;o außerordentlich<lb/>
kün&#x017F;tliches Gewebe von Unwahrheiten hätten ver-<lb/>
fertigen können. Es i&#x017F;t vielmehr höch&#x017F;tglaublich,<lb/>
daß Je&#x017F;us von Nazareth der edeldenkende, recht-<lb/>
&#x017F;chaffene, untadelhafte Mann war, für den ihn<lb/>
die Jünger ausgeben. Und die&#x017F;er erhabene, red-<lb/>
liche Men&#x017F;chenfreund, die&#x017F;es liebenswürdige Mu-<lb/>
&#x017F;ter aller Tugenden und Vollkommenheiten &#x017F;oll doch<lb/>
wieder auf der andern Seite etwas von &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
behauptet haben, welches offenbar fal&#x017F;ch war?<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0144] Neunte Betr. Jeſus Chriſtus der gröſte die etwas ſolches ſich überreden können, überlegen nicht, was für widerſprechende Dinge ſie glauben. Wenn ſie anders das Neue Teſtament mit Verſtand geleſen haben, ſo müßen ſie geſtehen, daß die Denk- ungsart Jeſu Chriſti, die erhabenſte und edelſte war, die ſich nur denken läßt, daß nie ein Menſch auf Erden gelebt hat, deßen Charakter ſo erhaben, uneigennützig, menſchenfreundlich und göttlich Groß war, als der Seinige. Das müßen ſie be- kennen, wenn ſie den Nachrichten der Evangeliſten auch nur eine menſchliche Glaubwürdigkeit zugeſte- hen. Und wollen ſie nicht einmahl dieſes, ſo müſ- ſen ſie wieder den unbegreiflichen Satz annehmen, daß ungelehrte Leute, und arme Fiſcher ſelbſt einen Charakter hätten erdichten und ausſinnen können, den die allergröſten Weiſen und Gelehrten, die vor und nach ihnen gelebt haben, nicht feiner und künſtlicher hätten ausſinnen können. Heiſt das nicht die allerwunderbarſten Dinge glauben, indem man andere Wunder verwerfen will? Nein, un- möglich läßt es ſich denken, daß Leute deren Ehr- lichkeit, und gerade Einfalt aus allen ihren Schrif- ten hervorleuchtet, daß dieſe ein ſo außerordentlich künſtliches Gewebe von Unwahrheiten hätten ver- fertigen können. Es iſt vielmehr höchſtglaublich, daß Jeſus von Nazareth der edeldenkende, recht- ſchaffene, untadelhafte Mann war, für den ihn die Jünger ausgeben. Und dieſer erhabene, red- liche Menſchenfreund, dieſes liebenswürdige Mu- ſter aller Tugenden und Vollkommenheiten ſoll doch wieder auf der andern Seite etwas von ſich ſelbſt behauptet haben, welches offenbar falſch war? der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/144
Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/144>, abgerufen am 18.07.2024.