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Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.

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Lehrer des menschlichen Geschlechts.
ste bekannt sind, wie Johannes im ersten Kapitel
seiner Evangelischen Geschichte lehret. Dieser
vereiniget sich mit der menschlichen Natur Jesu
von Nazareth zu einer Person, und lebte als ein
Mensch unter Menschen und redete als Mensch zu
Menschen, aber in ihm waren alle Schätze der
Weisheit, die ganze Fülle der Gottheit. Das ist
nicht etwan nur ein gutgemeinter, übertriebener
Gedanke, den seine Jünger und Apostel von ihm
hatten. Sie hörten es mehr als einmahl aus sei-
nem eigenen Munde, daß er öffentlich, vor den
Ohren seiner Freunde und Feinde versicherte, er
sey von Himmel gekommen, sey vom Vater ausge-
gangen und in die Welt gekommen, oder, wie es
Matthäus ausdruckt (Kap. 11, 27. Alles sey
ihm übergeben von seinem Vater, -- niemand
kenne den Vater,
und sey so vollkommen von dem
Willen und von den geheimen Rathschlüßen deßelben
unterrichtet, als er, der Sohn, und wem es der
Sohn offenbaren wolle.
Wenn das ist, und wer
kan mit Grunde daran zweifeln? wenn sein Unterricht
als der Unterricht Gottes selbst angesehen werden muß,
wie können wir denn eine größere Gewißheit ver-
langen und erwarten?

Aber vielleicht hat er mehr aus sich gemacht,
als er war -- vielleicht nur vorgegeben, er habe
seine Einsichten so zu reden durch einen unmittel-
baren Umgang mit der Gottheit selbst empfangen,
da sie blos seine eigene Erfindung waren. Das
müßen freylich alle dieienige annehmen, die seine
Lehre verwerfen, und ihn nicht für ihren Erlöser,
Lehrer und Seeligmacher erkennen wollen. Aber

die
J 2

Lehrer des menſchlichen Geſchlechts.
ſte bekannt ſind, wie Johannes im erſten Kapitel
ſeiner Evangeliſchen Geſchichte lehret. Dieſer
vereiniget ſich mit der menſchlichen Natur Jeſu
von Nazareth zu einer Perſon, und lebte als ein
Menſch unter Menſchen und redete als Menſch zu
Menſchen, aber in ihm waren alle Schätze der
Weisheit, die ganze Fülle der Gottheit. Das iſt
nicht etwan nur ein gutgemeinter, übertriebener
Gedanke, den ſeine Jünger und Apoſtel von ihm
hatten. Sie hörten es mehr als einmahl aus ſei-
nem eigenen Munde, daß er öffentlich, vor den
Ohren ſeiner Freunde und Feinde verſicherte, er
ſey von Himmel gekommen, ſey vom Vater ausge-
gangen und in die Welt gekommen, oder, wie es
Matthäus ausdruckt (Kap. 11, 27. Alles ſey
ihm übergeben von ſeinem Vater, — niemand
kenne den Vater,
und ſey ſo vollkommen von dem
Willen und von den geheimen Rathſchlüßen deßelben
unterrichtet, als er, der Sohn, und wem es der
Sohn offenbaren wolle.
Wenn das iſt, und wer
kan mit Grunde daran zweifeln? wenn ſein Unterricht
als der Unterricht Gottes ſelbſt angeſehen werden muß,
wie können wir denn eine größere Gewißheit ver-
langen und erwarten?

Aber vielleicht hat er mehr aus ſich gemacht,
als er war — vielleicht nur vorgegeben, er habe
ſeine Einſichten ſo zu reden durch einen unmittel-
baren Umgang mit der Gottheit ſelbſt empfangen,
da ſie blos ſeine eigene Erfindung waren. Das
müßen freylich alle dieienige annehmen, die ſeine
Lehre verwerfen, und ihn nicht für ihren Erlöſer,
Lehrer und Seeligmacher erkennen wollen. Aber

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[131/0143] Lehrer des menſchlichen Geſchlechts. ſte bekannt ſind, wie Johannes im erſten Kapitel ſeiner Evangeliſchen Geſchichte lehret. Dieſer vereiniget ſich mit der menſchlichen Natur Jeſu von Nazareth zu einer Perſon, und lebte als ein Menſch unter Menſchen und redete als Menſch zu Menſchen, aber in ihm waren alle Schätze der Weisheit, die ganze Fülle der Gottheit. Das iſt nicht etwan nur ein gutgemeinter, übertriebener Gedanke, den ſeine Jünger und Apoſtel von ihm hatten. Sie hörten es mehr als einmahl aus ſei- nem eigenen Munde, daß er öffentlich, vor den Ohren ſeiner Freunde und Feinde verſicherte, er ſey von Himmel gekommen, ſey vom Vater ausge- gangen und in die Welt gekommen, oder, wie es Matthäus ausdruckt (Kap. 11, 27. Alles ſey ihm übergeben von ſeinem Vater, — niemand kenne den Vater, und ſey ſo vollkommen von dem Willen und von den geheimen Rathſchlüßen deßelben unterrichtet, als er, der Sohn, und wem es der Sohn offenbaren wolle. Wenn das iſt, und wer kan mit Grunde daran zweifeln? wenn ſein Unterricht als der Unterricht Gottes ſelbſt angeſehen werden muß, wie können wir denn eine größere Gewißheit ver- langen und erwarten? Aber vielleicht hat er mehr aus ſich gemacht, als er war — vielleicht nur vorgegeben, er habe ſeine Einſichten ſo zu reden durch einen unmittel- baren Umgang mit der Gottheit ſelbſt empfangen, da ſie blos ſeine eigene Erfindung waren. Das müßen freylich alle dieienige annehmen, die ſeine Lehre verwerfen, und ihn nicht für ihren Erlöſer, Lehrer und Seeligmacher erkennen wollen. Aber die J 2

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Zitationshilfe: Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/143>, abgerufen am 22.11.2024.