Eigenthümlichkeit auch zu einem ästhetisch individuelleren Object macht. Die breit heruntergezogene Unterlippe des Botocuden; die Dickbäuche und Zwergfüße der Chinesischen Damen; die kerlhaften Gesichter und kurzen Taillen der Weiber in den Steierschen Alpen u. s. w. sind gewiß häßlich. Ein Verstoß gegen diese Formen würde also ästhetisch den Vorzug verdienen. Handelte es sich aber darum, eine Dame gerade als Chinesische Schönheit darzustellen, so würde nichts übrig bleiben, als dies eben Chinesisch zu thun und ihr folg¬ lich weder den Dickbauch noch den Zwergfuß zu ersparen. Die Kunst könnte diese Formen mildern, dürfte sie aber nicht ignoriren. Es gehört dergleichen dann einmal zur individuellen Charakteristik eines geschichtlichen Vorwurfs. Die naive Epoche einer Kunst wird sich zwar um diese historische Ge¬ nauigkeit wenig kümmern und sich vor Allem an das allgemein Menschliche halten, aber die zur Reflexion gelangte Kunst wird sich der Rücksicht auf die geschichtliche Correctheit nicht entschlagen können. Das Französische Theater unter Ludwig XIV. und XV. spielte bekanntlich die Griechischen und Römischen Heroen und Heroinen in Perücken und Reifröcken mit Galanteriedegen. Die Schauspieler standen dadurch dem Publicum näher, sofern dasselbe ein Handeln in diesem Costum leichter verstehen mußte. Aber allmälig beunruhigte man sich über jene Licenz. Man wollte die Vergangenheit und die Fremde in ihre Rechte einsetzen. Eine eigene, mit recht instructiven Kupfern ausgestattete Zeitschrift, die Costumes et Annales des grands Theatres de Paris unter Ludwig XVI., machte es sich zum Zweck, das Celtische, Grie¬ chische, Römische, Jüdische, Persische und mittelaltrige Costum nach seiner historischen Treue zu schildern und mit der Thea¬ terpraxis in Einklang zu bringen.
Eigenthümlichkeit auch zu einem äſthetiſch individuelleren Object macht. Die breit heruntergezogene Unterlippe des Botocuden; die Dickbäuche und Zwergfüße der Chineſiſchen Damen; die kerlhaften Geſichter und kurzen Taillen der Weiber in den Steierſchen Alpen u. ſ. w. ſind gewiß häßlich. Ein Verſtoß gegen dieſe Formen würde alſo äſthetiſch den Vorzug verdienen. Handelte es ſich aber darum, eine Dame gerade als Chineſiſche Schönheit darzuſtellen, ſo würde nichts übrig bleiben, als dies eben Chineſiſch zu thun und ihr folg¬ lich weder den Dickbauch noch den Zwergfuß zu erſparen. Die Kunſt könnte dieſe Formen mildern, dürfte ſie aber nicht ignoriren. Es gehört dergleichen dann einmal zur individuellen Charakteriſtik eines geſchichtlichen Vorwurfs. Die naive Epoche einer Kunſt wird ſich zwar um dieſe hiſtoriſche Ge¬ nauigkeit wenig kümmern und ſich vor Allem an das allgemein Menſchliche halten, aber die zur Reflexion gelangte Kunſt wird ſich der Rückſicht auf die geſchichtliche Correctheit nicht entſchlagen können. Das Franzöſiſche Theater unter Ludwig XIV. und XV. ſpielte bekanntlich die Griechiſchen und Römiſchen Heroen und Heroinen in Perücken und Reifröcken mit Galanteriedegen. Die Schauſpieler ſtanden dadurch dem Publicum näher, ſofern daſſelbe ein Handeln in dieſem Coſtum leichter verſtehen mußte. Aber allmälig beunruhigte man ſich über jene Licenz. Man wollte die Vergangenheit und die Fremde in ihre Rechte einſetzen. Eine eigene, mit recht inſtructiven Kupfern ausgeſtattete Zeitſchrift, die Costumes et Annales des grands Theâtres de Paris unter Ludwig XVI., machte es ſich zum Zweck, das Celtiſche, Grie¬ chiſche, Römiſche, Jüdiſche, Perſiſche und mittelaltrige Coſtum nach ſeiner hiſtoriſchen Treue zu ſchildern und mit der Thea¬ terpraxis in Einklang zu bringen.
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Eigenthümlichkeit auch zu einem äſthetiſch individuelleren
Object macht. Die breit heruntergezogene Unterlippe des
Botocuden; die Dickbäuche und Zwergfüße der Chineſiſchen
Damen; die kerlhaften Geſichter und kurzen Taillen der
Weiber in den Steierſchen Alpen u. ſ. w. ſind gewiß häßlich.
Ein Verſtoß gegen dieſe Formen würde alſo äſthetiſch den
Vorzug verdienen. Handelte es ſich aber darum, eine Dame
gerade als Chineſiſche Schönheit darzuſtellen, ſo würde nichts
übrig bleiben, als dies eben Chineſiſch zu thun und ihr folg¬
lich weder den Dickbauch noch den Zwergfuß zu erſparen.
Die Kunſt könnte dieſe Formen mildern, dürfte ſie aber nicht
ignoriren. Es gehört dergleichen dann einmal zur individuellen
Charakteriſtik eines geſchichtlichen Vorwurfs. Die naive
Epoche einer Kunſt wird ſich zwar um dieſe hiſtoriſche Ge¬
nauigkeit wenig kümmern und ſich vor Allem an das allgemein
Menſchliche halten, aber die zur Reflexion gelangte Kunſt
wird ſich der Rückſicht auf die geſchichtliche Correctheit
nicht entſchlagen können. Das Franzöſiſche Theater unter
Ludwig XIV. und XV. ſpielte bekanntlich die Griechiſchen und
Römiſchen Heroen und Heroinen in Perücken und Reifröcken
mit Galanteriedegen. Die Schauſpieler ſtanden dadurch dem
Publicum näher, ſofern daſſelbe ein Handeln in dieſem
Coſtum leichter verſtehen mußte. Aber allmälig beunruhigte
man ſich über jene Licenz. Man wollte die Vergangenheit
und die Fremde in ihre Rechte einſetzen. Eine eigene, mit
recht inſtructiven Kupfern ausgeſtattete Zeitſchrift, die
Costumes et Annales des grands Theâtres de Paris unter
Ludwig XVI., machte es ſich zum Zweck, das Celtiſche, Grie¬
chiſche, Römiſche, Jüdiſche, Perſiſche und mittelaltrige Coſtum
nach ſeiner hiſtoriſchen Treue zu ſchildern und mit der Thea¬
terpraxis in Einklang zu bringen.
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/81>, abgerufen am 27.11.2024.
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