so gut, als die sclavische Correctheit, die über eine pein¬ liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht, ästhetisch selber der Correctur bedarf.
Aber es versteht sich auch, daß ein selbstbewußtes Ab¬ weichen der Kunst von den durch die Natur gegebenen For¬ men behufs eines besondern ästhetischen Eindrucks oder in phantastischen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf. Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das conventionelle Maaß selber aus, das sich als historischer Aus¬ druck einer Gestalt des Geistes fixirt. In ihrem Ursprung wird eine solche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬ maaß, wenigstens mit einem reellen Bedürfniß, zusammen¬ hängen. Im Verlauf der Zeit kann sie sich aber auch weit von der Natur entfernen, indem der Mensch, seine Freiheit recht augenscheinlich zu verwirklichen, der Natur sogar oft Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbarische Ver¬ stümmelungen und Veränderungen seines Körpers, durch Knochen und Ringe, die er in der Nase und den Ohrläpp¬ chen oder Lippen befestigt, durch Tättowiren u. dgl., den Trieb, sich von der Natur zu unterscheiden. Er ist nicht, wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will als Mensch seine Freiheit gegen sie zeigen. Die Völker ge¬ winnen bei einiger Dauer einen ganz absonderlichen Habitus und eine fest ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen, ihrem Local- und Nationalcharakter entsprechend, eigenthüm¬ liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthschaften hervor. Hat nun die Kunst einen geschichtlichen Gegenstand zu behandeln, so wird sie, correct zu sein, ihn nach seiner positiven historisch gegebenen Form darzustellen haben. Auch hier gilt es nicht eine scrupulose Akribie, aber doch eine Beachtung dessen, was die Gestalt durch die Steigerung der
ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬ liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht, äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf.
Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬ weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬ men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf. Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬ druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬ maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬ hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬ ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬ chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht, wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬ winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen, ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬ liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner poſitiven hiſtoriſch gegebenen Form darzuſtellen haben. Auch hier gilt es nicht eine ſcrupuloſe Akribie, aber doch eine Beachtung deſſen, was die Geſtalt durch die Steigerung der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0080"n="58"/>ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬<lb/>
liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht,<lb/>
äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf.</p><lb/><p>Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬<lb/>
weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬<lb/>
men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in<lb/>
phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf.<lb/>
Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das<lb/>
conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬<lb/>
druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung<lb/>
wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬<lb/>
maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬<lb/>
hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit<lb/>
von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit<lb/>
recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft<lb/>
Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬<lb/>ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch<lb/>
Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬<lb/>
chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den<lb/>
Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht,<lb/>
wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will<lb/>
als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬<lb/>
winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus<lb/>
und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen,<lb/>
ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬<lb/>
liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften<lb/>
hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand<lb/>
zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner<lb/>
poſitiven hiſtoriſch gegebenen Form darzuſtellen haben. Auch<lb/>
hier gilt es nicht eine ſcrupuloſe Akribie, aber doch eine<lb/>
Beachtung deſſen, was die Geſtalt durch die Steigerung der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[58/0080]
ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬
liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht,
äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf.
Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬
weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬
men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in
phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf.
Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das
conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬
druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung
wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬
maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬
hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit
von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit
recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft
Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬
ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch
Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬
chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den
Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht,
wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will
als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬
winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus
und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen,
ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬
liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften
hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand
zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner
poſitiven hiſtoriſch gegebenen Form darzuſtellen haben. Auch
hier gilt es nicht eine ſcrupuloſe Akribie, aber doch eine
Beachtung deſſen, was die Geſtalt durch die Steigerung der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/80>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.