Abstracte. Wir erinnern uns hier des großen Aufsehens, das eine Statue des Bildhauers Clesinger auf dem Pariser Salon 1847 machte, weil sie aus Mangel einer mythologi¬ schen oder anderweiten Situation kaum zur Ausstellung zu¬ gelassen wäre und Furore machte. Es war ein üppiges Weib, das auf einem mit Rosen bestreueten Bette sich in wollüstigen Träumen wand. Dies war die Realität, die man aber nicht geradezu gestehen mochte. Was that nun die Kritik? Sie behauptete, Clesinger habe eine ganz neue Bahn gebrochen. Freunde hatten dem Bildhauer gerathen, den einen untergeschlagenen Fuß von einer Schlange um¬ ringeln zu lassen, damit dadurch der Anstand des Katalogs gewahrt würde, weil man sich nun eine Cleopatra oder Eu¬ rydice denken könne und die Statue bekam den Titel: la femme piquee par un serpent. Die Kritik zählte auf, daß dies Meisterstück keine Göttin, Nymphe, Dryade, Oreade, Napee, Okeanide sei, "mais tout bonnement une femme. Il a trouve, cet audacieux, ce fou, cet enrage, que c'etait la un sujet suffisant". "Vous etes etonne et ravi de ce type, qui n'est ni grec ni romain, et qui est charmant, de cette bouche entr' ouverte, de ces yeux mourans, de ces narines passionees, de cette physiognomie convulsive et douce, qu'agite un sentiment inconnu, de cet evanouissement vo¬ luptueux cause par l'ivresse du poison, philtre perfide, monte du talon au coeur, et qui glace les veines en les braulant". Wenn auch mit Hülfe der Fiction des Giftes, ist doch offen genug ausgesprochen, daß das Entzücken ein wollüstiges sei. "Un esprit meticuleux pourrait bien deman¬ der: qu'exprimait -- elle avant l'addition du serpent? Nous ne saurions trop le dire. Eh bien! Elle avoit recu en pleine poitrine une des fleches d'or du carquois d'Eros". Zuletzt
Abſtracte. Wir erinnern uns hier des großen Aufſehens, das eine Statue des Bildhauers Cléſinger auf dem Pariſer Salon 1847 machte, weil ſie aus Mangel einer mythologi¬ ſchen oder anderweiten Situation kaum zur Ausſtellung zu¬ gelaſſen wäre und Furore machte. Es war ein üppiges Weib, das auf einem mit Roſen beſtreueten Bette ſich in wollüſtigen Träumen wand. Dies war die Realität, die man aber nicht geradezu geſtehen mochte. Was that nun die Kritik? Sie behauptete, Cléſinger habe eine ganz neue Bahn gebrochen. Freunde hatten dem Bildhauer gerathen, den einen untergeſchlagenen Fuß von einer Schlange um¬ ringeln zu laſſen, damit dadurch der Anſtand des Katalogs gewahrt würde, weil man ſich nun eine Cleopatra oder Eu¬ rydice denken könne und die Statue bekam den Titel: la femme piquée par un serpent. Die Kritik zählte auf, daß dies Meiſterſtück keine Göttin, Nymphe, Dryade, Oreade, Napee, Okeanide ſei, „mais tout bonnement une femme. Il a trouvé, cet audacieux, ce fou, cet enragé, que c'était là un sujet suffisant“. „Vous êtes étonné et ravi de ce type, qui n'est ni grec ni romain, et qui est charmant, de cette bouche entr' ouverte, de ces yeux mourans, de ces narines passionées, de cette physiognomie convulsive et douce, qu'agite un sentiment inconnu, de cet évanouissement vo¬ luptueux causé par l'ivresse du poison, philtre perfide, monté du talon au coeur, et qui glace les veines en les brûlant“. Wenn auch mit Hülfe der Fiction des Giftes, iſt doch offen genug ausgeſprochen, daß das Entzücken ein wollüſtiges ſei. „Un esprit méticuleux pourrait bien deman¬ der: qu'exprimait — elle avant l'addition du serpent? Nous ne saurions trop le dire. Eh bien! Elle avoit reçu en pleine poitrine une des flêches d'or du carquois d'Eros“. Zuletzt
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Abſtracte. Wir erinnern uns hier des großen Aufſehens,
das eine Statue des Bildhauers Cl é ſinger auf dem Pariſer
Salon 1847 machte, weil ſie aus Mangel einer mythologi¬
ſchen oder anderweiten Situation kaum zur Ausſtellung zu¬
gelaſſen wäre und Furore machte. Es war ein üppiges
Weib, das auf einem mit Roſen beſtreueten Bette ſich in
wollüſtigen Träumen wand. Dies war die Realität, die
man aber nicht geradezu geſtehen mochte. Was that nun
die Kritik? Sie behauptete, Cléſinger habe eine ganz neue
Bahn gebrochen. Freunde hatten dem Bildhauer gerathen,
den einen untergeſchlagenen Fuß von einer Schlange um¬
ringeln zu laſſen, damit dadurch der Anſtand des Katalogs
gewahrt würde, weil man ſich nun eine Cleopatra oder Eu¬
rydice denken könne und die Statue bekam den Titel: la
femme piquée par un serpent. Die Kritik zählte auf, daß
dies Meiſterſtück keine Göttin, Nymphe, Dryade, Oreade,
Napee, Okeanide ſei, „mais tout bonnement une femme.
Il a trouvé, cet audacieux, ce fou, cet enragé, que c'était
là un sujet suffisant“. „Vous êtes étonné et ravi de ce
type, qui n'est ni grec ni romain, et qui est charmant, de
cette bouche entr' ouverte, de ces yeux mourans, de ces
narines passionées, de cette physiognomie convulsive et douce,
qu'agite un sentiment inconnu, de cet évanouissement vo¬
luptueux causé par l'ivresse du poison, philtre perfide,
monté du talon au coeur, et qui glace les veines en les
brûlant“. Wenn auch mit Hülfe der Fiction des Giftes,
iſt doch offen genug ausgeſprochen, daß das Entzücken ein
wollüſtiges ſei. „Un esprit méticuleux pourrait bien deman¬
der: qu'exprimait — elle avant l'addition du serpent? Nous
ne saurions trop le dire. Eh bien! Elle avoit reçu en pleine
poitrine une des flêches d'or du carquois d'Eros“. Zuletzt
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/430>, abgerufen am 22.11.2024.
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