Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Nachts vom Lager sich erhebt und im Traumwachen die
Blutflecken von der kleinen Hand waschen möchte, ist eine
dem Gespenstischen ganz nahe stehende Erscheinung, welche
uns das Blut in den Adern erstarren macht. Schuldbewußt¬
sein, Nachtwandeln, beginnende Zerrüttung des Geistes
mischen sich hier zu einem ungeheuren Effect. Sein König
Lear, wenn er, einen Kranz von Stroh tragend, mit einem
Baumast sich stützend, auf offener Haide wahnsinnige Reden
sprudelt, macht einen gespenstischen Eindruck. Aber in diesen
Scenen ist durch den gewaltigen Zusammenhang, in welchem
sie stehen, noch immer Vernunft. Der Spuk dagegen geht
in's Alberne und Unheimliche über. Dennoch wäre es sehr
einseitig, auch ihm sein ästhetisches Recht zu versagen. Die
Phantasie hat auch ihm eine wunderbare Schönheit abzuge¬
winnen verstanden, theils in den Mährchen der Völker,
theils in den Kunstdichtungen großer Meister, wie in Tiecks
herrlichen Phantasussagen vom blonden Eckbert vom Runen¬
berge, vom Pokal u. a.

Aus dieser Entwicklung wird nun wohl die falsche Ein¬
seitigkeit derjenigen Begriffsbestimmung erhellen, welche das
Häßliche mit dem Gespenstischen und dies wieder mit dem
Bösen identificirt. Weiße hat sich bei seiner Theorie durch
die Vorstellung der Hölle in der religiösen Phantasie der
Völker zu dem Irrthum fortreißen lassen, in den Höllenbe¬
wohnern, vulgo Teufeln, die wahren Gespenster, zu sehen,
was sich ästhetisch nicht rechtfertigen läßt. Aesthetik I. 188:
"Die Gestalten dieses Abgrunds sind die Gespenster, die
ein selbstständiges, oder objectives und von der Subjectivität
der Phantasie losgetrenntes Dasein lügen, und durch diese
Lüge die endlichen Geister, denen sie, jedem einzelnen zur un¬
endlichen Particularität entfaltet, erscheinen, in denselben Ab¬

23 *

Nachts vom Lager ſich erhebt und im Traumwachen die
Blutflecken von der kleinen Hand waſchen möchte, iſt eine
dem Geſpenſtiſchen ganz nahe ſtehende Erſcheinung, welche
uns das Blut in den Adern erſtarren macht. Schuldbewußt¬
ſein, Nachtwandeln, beginnende Zerrüttung des Geiſtes
miſchen ſich hier zu einem ungeheuren Effect. Sein König
Lear, wenn er, einen Kranz von Stroh tragend, mit einem
Baumaſt ſich ſtützend, auf offener Haide wahnſinnige Reden
ſprudelt, macht einen geſpenſtiſchen Eindruck. Aber in dieſen
Scenen iſt durch den gewaltigen Zuſammenhang, in welchem
ſie ſtehen, noch immer Vernunft. Der Spuk dagegen geht
in's Alberne und Unheimliche über. Dennoch wäre es ſehr
einſeitig, auch ihm ſein äſthetiſches Recht zu verſagen. Die
Phantaſie hat auch ihm eine wunderbare Schönheit abzuge¬
winnen verſtanden, theils in den Mährchen der Völker,
theils in den Kunſtdichtungen großer Meiſter, wie in Tiecks
herrlichen Phantaſusſagen vom blonden Eckbert vom Runen¬
berge, vom Pokal u. a.

Aus dieſer Entwicklung wird nun wohl die falſche Ein¬
ſeitigkeit derjenigen Begriffsbeſtimmung erhellen, welche das
Häßliche mit dem Geſpenſtiſchen und dies wieder mit dem
Böſen identificirt. Weiße hat ſich bei ſeiner Theorie durch
die Vorſtellung der Hölle in der religiöſen Phantaſie der
Völker zu dem Irrthum fortreißen laſſen, in den Höllenbe¬
wohnern, vulgo Teufeln, die wahren Geſpenſter, zu ſehen,
was ſich äſthetiſch nicht rechtfertigen läßt. Aeſthetik I. 188:
„Die Geſtalten dieſes Abgrunds ſind die Geſpenſter, die
ein ſelbſtſtändiges, oder objectives und von der Subjectivität
der Phantaſie losgetrenntes Daſein lügen, und durch dieſe
Lüge die endlichen Geiſter, denen ſie, jedem einzelnen zur un¬
endlichen Particularität entfaltet, erſcheinen, in denſelben Ab¬

23 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0377" n="355"/>
Nachts vom Lager &#x017F;ich erhebt und im Traumwachen die<lb/>
Blutflecken von der kleinen Hand wa&#x017F;chen möchte, i&#x017F;t eine<lb/>
dem Ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;chen ganz nahe &#x017F;tehende Er&#x017F;cheinung, welche<lb/>
uns das Blut in den Adern er&#x017F;tarren macht. Schuldbewußt¬<lb/>
&#x017F;ein, Nachtwandeln, beginnende Zerrüttung des Gei&#x017F;tes<lb/>
mi&#x017F;chen &#x017F;ich hier zu einem ungeheuren Effect. Sein König<lb/>
Lear, wenn er, einen Kranz von Stroh tragend, mit einem<lb/>
Bauma&#x017F;t &#x017F;ich &#x017F;tützend, auf offener Haide wahn&#x017F;innige Reden<lb/>
&#x017F;prudelt, macht einen ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;chen Eindruck. Aber in die&#x017F;en<lb/>
Scenen i&#x017F;t durch den gewaltigen Zu&#x017F;ammenhang, in welchem<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;tehen, noch immer Vernunft. Der Spuk dagegen geht<lb/>
in's Alberne und Unheimliche über. Dennoch wäre es &#x017F;ehr<lb/>
ein&#x017F;eitig, auch ihm &#x017F;ein ä&#x017F;theti&#x017F;ches Recht zu ver&#x017F;agen. Die<lb/>
Phanta&#x017F;ie hat auch ihm eine wunderbare Schönheit abzuge¬<lb/>
winnen ver&#x017F;tanden, theils in den Mährchen der Völker,<lb/>
theils in den Kun&#x017F;tdichtungen großer Mei&#x017F;ter, wie in <hi rendition="#g">Tiecks</hi><lb/>
herrlichen Phanta&#x017F;us&#x017F;agen vom blonden Eckbert vom Runen¬<lb/>
berge, vom Pokal u. a.</p><lb/>
                  <p>Aus die&#x017F;er Entwicklung wird nun wohl die fal&#x017F;che Ein¬<lb/>
&#x017F;eitigkeit derjenigen Begriffsbe&#x017F;timmung erhellen, welche das<lb/>
Häßliche mit dem Ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;chen und dies wieder mit dem<lb/>&#x017F;en identificirt. <hi rendition="#g">Weiße</hi> hat &#x017F;ich bei &#x017F;einer Theorie durch<lb/>
die Vor&#x017F;tellung der Hölle in der religiö&#x017F;en Phanta&#x017F;ie der<lb/>
Völker zu dem Irrthum fortreißen la&#x017F;&#x017F;en, in den Höllenbe¬<lb/>
wohnern, <hi rendition="#aq">vulgo</hi> Teufeln, die wahren Ge&#x017F;pen&#x017F;ter, zu &#x017F;ehen,<lb/>
was &#x017F;ich ä&#x017F;theti&#x017F;ch nicht rechtfertigen läßt. Ae&#x017F;thetik <hi rendition="#aq">I</hi>. 188:<lb/>
&#x201E;Die Ge&#x017F;talten die&#x017F;es Abgrunds &#x017F;ind die <hi rendition="#g">Ge&#x017F;pen&#x017F;ter</hi>, die<lb/>
ein &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;tändiges, oder objectives und von der Subjectivität<lb/>
der Phanta&#x017F;ie losgetrenntes Da&#x017F;ein <hi rendition="#g">lügen</hi>, und durch die&#x017F;e<lb/>
Lüge die endlichen Gei&#x017F;ter, denen &#x017F;ie, jedem einzelnen zur un¬<lb/>
endlichen Particularität entfaltet, er&#x017F;cheinen, in den&#x017F;elben Ab¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">23 *<lb/></fw>
</p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0377] Nachts vom Lager ſich erhebt und im Traumwachen die Blutflecken von der kleinen Hand waſchen möchte, iſt eine dem Geſpenſtiſchen ganz nahe ſtehende Erſcheinung, welche uns das Blut in den Adern erſtarren macht. Schuldbewußt¬ ſein, Nachtwandeln, beginnende Zerrüttung des Geiſtes miſchen ſich hier zu einem ungeheuren Effect. Sein König Lear, wenn er, einen Kranz von Stroh tragend, mit einem Baumaſt ſich ſtützend, auf offener Haide wahnſinnige Reden ſprudelt, macht einen geſpenſtiſchen Eindruck. Aber in dieſen Scenen iſt durch den gewaltigen Zuſammenhang, in welchem ſie ſtehen, noch immer Vernunft. Der Spuk dagegen geht in's Alberne und Unheimliche über. Dennoch wäre es ſehr einſeitig, auch ihm ſein äſthetiſches Recht zu verſagen. Die Phantaſie hat auch ihm eine wunderbare Schönheit abzuge¬ winnen verſtanden, theils in den Mährchen der Völker, theils in den Kunſtdichtungen großer Meiſter, wie in Tiecks herrlichen Phantaſusſagen vom blonden Eckbert vom Runen¬ berge, vom Pokal u. a. Aus dieſer Entwicklung wird nun wohl die falſche Ein¬ ſeitigkeit derjenigen Begriffsbeſtimmung erhellen, welche das Häßliche mit dem Geſpenſtiſchen und dies wieder mit dem Böſen identificirt. Weiße hat ſich bei ſeiner Theorie durch die Vorſtellung der Hölle in der religiöſen Phantaſie der Völker zu dem Irrthum fortreißen laſſen, in den Höllenbe¬ wohnern, vulgo Teufeln, die wahren Geſpenſter, zu ſehen, was ſich äſthetiſch nicht rechtfertigen läßt. Aeſthetik I. 188: „Die Geſtalten dieſes Abgrunds ſind die Geſpenſter, die ein ſelbſtſtändiges, oder objectives und von der Subjectivität der Phantaſie losgetrenntes Daſein lügen, und durch dieſe Lüge die endlichen Geiſter, denen ſie, jedem einzelnen zur un¬ endlichen Particularität entfaltet, erſcheinen, in denſelben Ab¬ 23 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/377
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/377>, abgerufen am 23.07.2024.