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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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verstecktes Lauschen hier nicht nur sprechen, auch lesen gelernt
hat, eines Morgens wahr, entsetzt sich aber vor ihm, brennt
die Wohnung nieder und reist über Nacht ab. Wir enthalten
uns jeder psychologischen Kritik, denn obwohl Mistriß
Shelley mit großer Ausführlichkeit es gerade auf die Psycho¬
logie angelegt hat, so gehört doch ein ernsteres Nachdenken
über den Causalnexus nicht in ein Werk, das von vorn herein
auf einer Fiction beruhet und dessen Geschichte mehr einen
symbolischen Charakter hat. Wir schweigen daher auch von
den sonstigen ästhetischen Mängeln und fahren in unserm
Bericht fort. Aus einem Brief in Frankensteins Kleidern,
in denen es entwichen, erfährt das Ungethüm -- denn wozu
hätte es lesen gelernt? -- das Geheimniß seiner Geburt.
Rache gegen seinen Schöpfer, der es so elend gemacht,
treibt es zum Morde von Frankensteins Sohn. Im Gebirge
trifft es mit Frankenstein selber einsam zusammen, schleppt
ihn in eine Höhle und erzwingt von ihm den Schwur, ihm
ein weibliches, durch gleiche Häßlichkeit zur Verbindung mit
ihm geeignetes Wesen zu schaffen, widrigenfalls es alles
ihm Theure morden werde. Der moderne Prometheus macht
sich auch an die Ausführung und ist schon wieder der
Vollendung nahe, als der entsetzliche Gedanke in ihm auf¬
steigt, durch das Weib vielleicht einer scheußlichen Race die
Existenz zu geben. Da er sich in seiner Arbeit von den
heimlich schleichenden Späheraugen des Ungeheuers überwacht
weiß, bricht eine unendliche Wuth in ihm aus, in welcher
er seine Schöpfung wieder zerstört, die Stücke des Au¬
tomats in einen Korb packt, diesen in ein Boot setzt und
damit allein auf den See hinausfährt. Hier versenkt er
sein Werk, hat aber dabei, obwohl es nur ein Maschinen¬
weib, fast das Gefühl eines Verbrechens. Im weitern sehr

verſtecktes Lauſchen hier nicht nur ſprechen, auch leſen gelernt
hat, eines Morgens wahr, entſetzt ſich aber vor ihm, brennt
die Wohnung nieder und reiſt über Nacht ab. Wir enthalten
uns jeder pſychologiſchen Kritik, denn obwohl Miſtriß
Shelley mit großer Ausführlichkeit es gerade auf die Pſycho¬
logie angelegt hat, ſo gehört doch ein ernſteres Nachdenken
über den Cauſalnexus nicht in ein Werk, das von vorn herein
auf einer Fiction beruhet und deſſen Geſchichte mehr einen
ſymboliſchen Charakter hat. Wir ſchweigen daher auch von
den ſonſtigen äſthetiſchen Mängeln und fahren in unſerm
Bericht fort. Aus einem Brief in Frankenſteins Kleidern,
in denen es entwichen, erfährt das Ungethüm — denn wozu
hätte es leſen gelernt? — das Geheimniß ſeiner Geburt.
Rache gegen ſeinen Schöpfer, der es ſo elend gemacht,
treibt es zum Morde von Frankenſteins Sohn. Im Gebirge
trifft es mit Frankenſtein ſelber einſam zuſammen, ſchleppt
ihn in eine Höhle und erzwingt von ihm den Schwur, ihm
ein weibliches, durch gleiche Häßlichkeit zur Verbindung mit
ihm geeignetes Weſen zu ſchaffen, widrigenfalls es alles
ihm Theure morden werde. Der moderne Prometheus macht
ſich auch an die Ausführung und iſt ſchon wieder der
Vollendung nahe, als der entſetzliche Gedanke in ihm auf¬
ſteigt, durch das Weib vielleicht einer ſcheußlichen Raçe die
Exiſtenz zu geben. Da er ſich in ſeiner Arbeit von den
heimlich ſchleichenden Späheraugen des Ungeheuers überwacht
weiß, bricht eine unendliche Wuth in ihm aus, in welcher
er ſeine Schöpfung wieder zerſtört, die Stücke des Au¬
tomats in einen Korb packt, dieſen in ein Boot ſetzt und
damit allein auf den See hinausfährt. Hier verſenkt er
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[350/0372] verſtecktes Lauſchen hier nicht nur ſprechen, auch leſen gelernt hat, eines Morgens wahr, entſetzt ſich aber vor ihm, brennt die Wohnung nieder und reiſt über Nacht ab. Wir enthalten uns jeder pſychologiſchen Kritik, denn obwohl Miſtriß Shelley mit großer Ausführlichkeit es gerade auf die Pſycho¬ logie angelegt hat, ſo gehört doch ein ernſteres Nachdenken über den Cauſalnexus nicht in ein Werk, das von vorn herein auf einer Fiction beruhet und deſſen Geſchichte mehr einen ſymboliſchen Charakter hat. Wir ſchweigen daher auch von den ſonſtigen äſthetiſchen Mängeln und fahren in unſerm Bericht fort. Aus einem Brief in Frankenſteins Kleidern, in denen es entwichen, erfährt das Ungethüm — denn wozu hätte es leſen gelernt? — das Geheimniß ſeiner Geburt. Rache gegen ſeinen Schöpfer, der es ſo elend gemacht, treibt es zum Morde von Frankenſteins Sohn. Im Gebirge trifft es mit Frankenſtein ſelber einſam zuſammen, ſchleppt ihn in eine Höhle und erzwingt von ihm den Schwur, ihm ein weibliches, durch gleiche Häßlichkeit zur Verbindung mit ihm geeignetes Weſen zu ſchaffen, widrigenfalls es alles ihm Theure morden werde. Der moderne Prometheus macht ſich auch an die Ausführung und iſt ſchon wieder der Vollendung nahe, als der entſetzliche Gedanke in ihm auf¬ ſteigt, durch das Weib vielleicht einer ſcheußlichen Raçe die Exiſtenz zu geben. Da er ſich in ſeiner Arbeit von den heimlich ſchleichenden Späheraugen des Ungeheuers überwacht weiß, bricht eine unendliche Wuth in ihm aus, in welcher er ſeine Schöpfung wieder zerſtört, die Stücke des Au¬ tomats in einen Korb packt, dieſen in ein Boot ſetzt und damit allein auf den See hinausfährt. Hier verſenkt er ſein Werk, hat aber dabei, obwohl es nur ein Maſchinen¬ weib, faſt das Gefühl eines Verbrechens. Im weitern ſehr

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/372>, abgerufen am 24.11.2024.