Die Darstellung des Gespenstischen ist daher außer¬ ordentlich schwer. Lessing hat in X.-XII. der Dra¬ maturgie die ästhetische Theorie des Gespenstischen gegeben. "Der Same, Gespenster zu glauben, liegt in uns Allen, und in denen am häufigsten, für die er (der dramatische Dichter) dichtet. Es kommt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so mögen wir im gemeinen Leben glauben, was wir wollen; im Theater müssen wir glauben, was Er will." Lessing stellt nun Voltaire und Shakespeare einander entgegen, den erstern als den, welcher das Wesen des Gespenstes verfehlt, den zweiten als den, welcher es richtig verstanden und mei¬ sterhaft, nach Lessing fast einzig und allein, dargestellt habe. Voltaire hatte in seiner Semiramis den Schatten des Ninus, am hellen Tage, mitten in einer Versammlung der Stände des Reichs, von einem Donnerschlag begleitet, aus seiner Gruft hervortreten lassen. "Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau hätte ihm nicht sagen können, daß die Gespenster das Son¬ nenlicht scheuen, und große Gesellschafen gar nicht gern besuchen? Doch Voltaire wußte das zuverläßig auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstände zu nutzen: er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein, und durch diese edlere Art verdarb er Alles. Das Gespenst, das sich Dinge heraus¬ nimmt, die wider alles Herkommen, wider alle guten Sitten unter den Gespenstern sind, dünkt mich kein rechtes Gespenst zu sein; und Alles, was die Illusion nicht befördert, stört hier die Illusion." Lessing beschränkt sich auf die Verglei¬
Die Darſtellung des Geſpenſtiſchen iſt daher außer¬ ordentlich ſchwer. Leſſing hat in № X.–XII. der Dra¬ maturgie die äſthetiſche Theorie des Geſpenſtiſchen gegeben. „Der Same, Geſpenſter zu glauben, liegt in uns Allen, und in denen am häufigſten, für die er (der dramatiſche Dichter) dichtet. Es kommt nur auf ſeine Kunſt an, dieſen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe, den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geſchwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er dieſe in ſeiner Gewalt, ſo mögen wir im gemeinen Leben glauben, was wir wollen; im Theater müſſen wir glauben, was Er will.“ Leſſing ſtellt nun Voltaire und Shakeſpeare einander entgegen, den erſtern als den, welcher das Weſen des Geſpenſtes verfehlt, den zweiten als den, welcher es richtig verſtanden und mei¬ ſterhaft, nach Leſſing faſt einzig und allein, dargeſtellt habe. Voltaire hatte in ſeiner Semiramis den Schatten des Ninus, am hellen Tage, mitten in einer Verſammlung der Stände des Reichs, von einem Donnerſchlag begleitet, aus ſeiner Gruft hervortreten laſſen. „Wo hat Voltaire jemals gehört, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau hätte ihm nicht ſagen können, daß die Geſpenſter das Son¬ nenlicht ſcheuen, und große Geſellſchafen gar nicht gern beſuchen? Doch Voltaire wußte das zuverläßig auch; aber er war zu furchtſam, zu ekel, dieſe gemeinen Umſtände zu nutzen: er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein Geiſt von einer edlern Art ſein, und durch dieſe edlere Art verdarb er Alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge heraus¬ nimmt, die wider alles Herkommen, wider alle guten Sitten unter den Geſpenſtern ſind, dünkt mich kein rechtes Geſpenſt zu ſein; und Alles, was die Illuſion nicht befördert, ſtört hier die Illuſion.“ Leſſing beſchränkt ſich auf die Verglei¬
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Die Darſtellung des Geſpenſtiſchen iſt daher außer¬
ordentlich ſchwer. Leſſing hat in № X.–XII. der Dra¬
maturgie die äſthetiſche Theorie des Geſpenſtiſchen gegeben.
„Der Same, Geſpenſter zu glauben, liegt in uns Allen, und
in denen am häufigſten, für die er (der dramatiſche Dichter)
dichtet. Es kommt nur auf ſeine Kunſt an, dieſen Samen
zum Keimen zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe, den
Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geſchwindigkeit den
Schwung zu geben. Hat er dieſe in ſeiner Gewalt, ſo
mögen wir im gemeinen Leben glauben, was wir wollen; im
Theater müſſen wir glauben, was Er will.“ Leſſing ſtellt
nun Voltaire und Shakeſpeare einander entgegen, den
erſtern als den, welcher das Weſen des Geſpenſtes verfehlt,
den zweiten als den, welcher es richtig verſtanden und mei¬
ſterhaft, nach Leſſing faſt einzig und allein, dargeſtellt habe.
Voltaire hatte in ſeiner Semiramis den Schatten des
Ninus, am hellen Tage, mitten in einer Verſammlung der
Stände des Reichs, von einem Donnerſchlag begleitet, aus
ſeiner Gruft hervortreten laſſen. „Wo hat Voltaire jemals
gehört, daß Geſpenſter ſo dreiſt ſind? Welche alte Frau
hätte ihm nicht ſagen können, daß die Geſpenſter das Son¬
nenlicht ſcheuen, und große Geſellſchafen gar nicht gern
beſuchen? Doch Voltaire wußte das zuverläßig auch; aber
er war zu furchtſam, zu ekel, dieſe gemeinen Umſtände zu
nutzen: er wollte uns einen Geiſt zeigen, aber es ſollte ein
Geiſt von einer edlern Art ſein, und durch dieſe edlere Art
verdarb er Alles. Das Geſpenſt, das ſich Dinge heraus¬
nimmt, die wider alles Herkommen, wider alle guten Sitten
unter den Geſpenſtern ſind, dünkt mich kein rechtes Geſpenſt
zu ſein; und Alles, was die Illuſion nicht befördert, ſtört
hier die Illuſion.“ Leſſing beſchränkt ſich auf die Verglei¬
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/367>, abgerufen am 24.11.2024.
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