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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Sue in seiner Mathilde die niederträchtigen Quälereien
geschildert hat, mit denen Mademoiselle de Maran die kleine
Mathilde systematisch unter dem Schein abmartert, ihr eine
gewissenhafte, sorgfältige Erziehung zu geben. Wie grenzenlos
brutal ist jenes Ungeheuer in der Scene, wo sie, im Bett
liegend, der Kleinen ihr schönes Haar abschneidet! In der
berüchtigten Chouette der Pariser Mysterien hat Sue nur
einen schon carikirten, ins Grobe gezeichneten Abklatsch dieser
diabolischen Egoität gegeben. -- Den Contrast der Majestät
selbstbewußter Freiheit mit der Brutalität finden wir be¬
sonders durch die Passionsgeschichte Christi zum Gegen¬
stande der Kunst gemacht. In der antiken Kunst war dieser
Gegensatz noch nicht hervorgetreten. Niobe, Dirke, Laokoon
waren durch Hybris; Oedipus, Orestes durch unfreiwillig frei¬
williges Handeln schuldig; Marsyas, dem Gotte gegenüber
ebenfalls durch Hybris schuldig, kann uns durch die Art
seiner Strafe Mitleiden erregen, weil es unsern heutigen
Gefühlen widersagt, daß ein Gott selber, auch wenn er be¬
rechtigt ist, eine solche Strafe vollzieht, seinem überwun¬
denen Gegner mit einem Messer die Haut abzustreifen. An¬
tike Darstellungen auf Reliefs mildern daher auch diese
brutale Anschauung dadurch, daß sie den Apollo mit dem
Messer auf den an einen Baumstamm gebundenen Marsyos
nur zuschreiten lassen. In der Passion Christi aber erblicken
wir den diametralen Gegensatz der Unschuld zur Brutalität,
die ihr in feinern und gröbern Formen gegenübertritt. Früh
hat die Malerei diesen Contrast ergriffen und die ältere
Deutsche Schule vornämlich hat sich angelegen sein lassen,
den Pharisäern, Schriftgelehrten und Kriegsknechten recht
brutal diabolische Physiognomieen zu geben (56). Von der
Geschichte Christi aus wurde dieser Contrast in der Geschichte

Sue in ſeiner Mathilde die niederträchtigen Quälereien
geſchildert hat, mit denen Mademoiſelle de Maran die kleine
Mathilde ſyſtematiſch unter dem Schein abmartert, ihr eine
gewiſſenhafte, ſorgfältige Erziehung zu geben. Wie grenzenlos
brutal iſt jenes Ungeheuer in der Scene, wo ſie, im Bett
liegend, der Kleinen ihr ſchönes Haar abſchneidet! In der
berüchtigten Chouette der Pariſer Myſterien hat Sue nur
einen ſchon carikirten, ins Grobe gezeichneten Abklatſch dieſer
diaboliſchen Egoität gegeben. — Den Contraſt der Majeſtät
ſelbſtbewußter Freiheit mit der Brutalität finden wir be¬
ſonders durch die Paſſionsgeſchichte Chriſti zum Gegen¬
ſtande der Kunſt gemacht. In der antiken Kunſt war dieſer
Gegenſatz noch nicht hervorgetreten. Niobe, Dirke, Laokoon
waren durch Hybris; Oedipus, Oreſtes durch unfreiwillig frei¬
williges Handeln ſchuldig; Marſyas, dem Gotte gegenüber
ebenfalls durch Hybris ſchuldig, kann uns durch die Art
ſeiner Strafe Mitleiden erregen, weil es unſern heutigen
Gefühlen widerſagt, daß ein Gott ſelber, auch wenn er be¬
rechtigt iſt, eine ſolche Strafe vollzieht, ſeinem überwun¬
denen Gegner mit einem Meſſer die Haut abzuſtreifen. An¬
tike Darſtellungen auf Reliefs mildern daher auch dieſe
brutale Anſchauung dadurch, daß ſie den Apollo mit dem
Meſſer auf den an einen Baumſtamm gebundenen Marſyos
nur zuſchreiten laſſen. In der Paſſion Chriſti aber erblicken
wir den diametralen Gegenſatz der Unſchuld zur Brutalität,
die ihr in feinern und gröbern Formen gegenübertritt. Früh
hat die Malerei dieſen Contraſt ergriffen und die ältere
Deutſche Schule vornämlich hat ſich angelegen ſein laſſen,
den Phariſäern, Schriftgelehrten und Kriegsknechten recht
brutal diaboliſche Phyſiognomieen zu geben (56). Von der
Geſchichte Chriſti aus wurde dieſer Contraſt in der Geſchichte

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[255/0277] Sue in ſeiner Mathilde die niederträchtigen Quälereien geſchildert hat, mit denen Mademoiſelle de Maran die kleine Mathilde ſyſtematiſch unter dem Schein abmartert, ihr eine gewiſſenhafte, ſorgfältige Erziehung zu geben. Wie grenzenlos brutal iſt jenes Ungeheuer in der Scene, wo ſie, im Bett liegend, der Kleinen ihr ſchönes Haar abſchneidet! In der berüchtigten Chouette der Pariſer Myſterien hat Sue nur einen ſchon carikirten, ins Grobe gezeichneten Abklatſch dieſer diaboliſchen Egoität gegeben. — Den Contraſt der Majeſtät ſelbſtbewußter Freiheit mit der Brutalität finden wir be¬ ſonders durch die Paſſionsgeſchichte Chriſti zum Gegen¬ ſtande der Kunſt gemacht. In der antiken Kunſt war dieſer Gegenſatz noch nicht hervorgetreten. Niobe, Dirke, Laokoon waren durch Hybris; Oedipus, Oreſtes durch unfreiwillig frei¬ williges Handeln ſchuldig; Marſyas, dem Gotte gegenüber ebenfalls durch Hybris ſchuldig, kann uns durch die Art ſeiner Strafe Mitleiden erregen, weil es unſern heutigen Gefühlen widerſagt, daß ein Gott ſelber, auch wenn er be¬ rechtigt iſt, eine ſolche Strafe vollzieht, ſeinem überwun¬ denen Gegner mit einem Meſſer die Haut abzuſtreifen. An¬ tike Darſtellungen auf Reliefs mildern daher auch dieſe brutale Anſchauung dadurch, daß ſie den Apollo mit dem Meſſer auf den an einen Baumſtamm gebundenen Marſyos nur zuſchreiten laſſen. In der Paſſion Chriſti aber erblicken wir den diametralen Gegenſatz der Unſchuld zur Brutalität, die ihr in feinern und gröbern Formen gegenübertritt. Früh hat die Malerei dieſen Contraſt ergriffen und die ältere Deutſche Schule vornämlich hat ſich angelegen ſein laſſen, den Phariſäern, Schriftgelehrten und Kriegsknechten recht brutal diaboliſche Phyſiognomieen zu geben (56). Von der Geſchichte Chriſti aus wurde dieſer Contraſt in der Geſchichte

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/277>, abgerufen am 25.11.2024.