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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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sammenfaßt (Oeuvres de Diderot, ed. Naigeon, X., p. 126.):
"Que d'horreurs! un epoux, deshonore, l'etat trahi, des cito¬
yens sacrifies, ces forfaits ignores, recompenses meme comme
des vertus: et tout cela a propos d'un bijou."
Und den¬
noch macht das Buch einen widerwärtigen Eindruck, weil
die fundamentale Fiction zur Enthüllung der Abgründe mensch¬
licher Leidenschaften schlechthin häßlich ist. Die Gemeinheit
dieser Voraussetzung wirkt durch die ganze Reihe der Er¬
zählungen hin ähnlich, wie in Ben Jonsons Epicöne
(oder das stumme Frauenzimmer, übersetzt von Tieck, auf¬
genommen in seine sämmtlichen Werke Bd. 12.) die Basis
des Stücks, daß ein Heirathsvertrag propter frigiditatem wieder
zurückgenommen werden soll.

Eine eigenthümliche Gruppe des Häßlichen bieten hier
noch diejenigen Darstellungen, die nicht im Sinne der
Lüsternheit oder Zweideutigkeit schamlos sind und dennoch
das Schamgefühl tief verletzen, weil sie einen Inhalt, den
wir von der Muse der Geschichte mit unbefangenem Ernst
aufnehmen würden, poetisch machen wollen. Es gibt eine
Offenheit der Corruption, die zu einer verkehrten Unschuld
wird. Man kann gewissen Darstellungen nicht den Vor¬
wurf machen, daß sie die Wollust durch Verschleirung
pikanter schilderten oder umgekehrt, die Sinne zu bestechen,
einen besondern Aufwand trieben. Ihre Treue in den Ge¬
mälden der physischen und ethischen Verworfenheit, ihre
peinlich genaue Anatomie der Gemeinheit, läßt uns gegen sie
nicht den Vorwurf erheben, daß wir durch halbverrathene
Reize verführt oder durch kokette Farben überwältigt würden,
allein gerade weil diese Entschuldigung fehlt, ist die Wirkung
solcher Producte eine um so ekelhaftere. Wenn ein Sue¬
tonius und Tacitus uns mit objectiver Wahrheitsliebe der¬

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ſammenfaßt (Oeuvres de Diderot, ed. Naigeon, X., p. 126.):
„Que d'horreurs! un époux, déshonoré, l'état trahi, des cito¬
yens sacrifiés, ces forfaits ignorés, récompensés même comme
des vertus: et tout cela à propos d'un bijou.“
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noch macht das Buch einen widerwärtigen Eindruck, weil
die fundamentale Fiction zur Enthüllung der Abgründe menſch¬
licher Leidenſchaften ſchlechthin häßlich iſt. Die Gemeinheit
dieſer Vorausſetzung wirkt durch die ganze Reihe der Er¬
zählungen hin ähnlich, wie in Ben Jonſons Epicöne
(oder das ſtumme Frauenzimmer, überſetzt von Tieck, auf¬
genommen in ſeine ſämmtlichen Werke Bd. 12.) die Baſis
des Stücks, daß ein Heirathsvertrag propter frigiditatem wieder
zurückgenommen werden ſoll.

Eine eigenthümliche Gruppe des Häßlichen bieten hier
noch diejenigen Darſtellungen, die nicht im Sinne der
Lüſternheit oder Zweideutigkeit ſchamlos ſind und dennoch
das Schamgefühl tief verletzen, weil ſie einen Inhalt, den
wir von der Muſe der Geſchichte mit unbefangenem Ernſt
aufnehmen würden, poetiſch machen wollen. Es gibt eine
Offenheit der Corruption, die zu einer verkehrten Unſchuld
wird. Man kann gewiſſen Darſtellungen nicht den Vor¬
wurf machen, daß ſie die Wolluſt durch Verſchleirung
pikanter ſchilderten oder umgekehrt, die Sinne zu beſtechen,
einen beſondern Aufwand trieben. Ihre Treue in den Ge¬
mälden der phyſiſchen und ethiſchen Verworfenheit, ihre
peinlich genaue Anatomie der Gemeinheit, läßt uns gegen ſie
nicht den Vorwurf erheben, daß wir durch halbverrathene
Reize verführt oder durch kokette Farben überwältigt würden,
allein gerade weil dieſe Entſchuldigung fehlt, iſt die Wirkung
ſolcher Producte eine um ſo ekelhaftere. Wenn ein Sue¬
tonius und Tacitus uns mit objectiver Wahrheitsliebe der¬

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[243/0265] ſammenfaßt (Oeuvres de Diderot, ed. Naigeon, X., p. 126.): „Que d'horreurs! un époux, déshonoré, l'état trahi, des cito¬ yens sacrifiés, ces forfaits ignorés, récompensés même comme des vertus: et tout cela à propos d'un bijou.“ Und den¬ noch macht das Buch einen widerwärtigen Eindruck, weil die fundamentale Fiction zur Enthüllung der Abgründe menſch¬ licher Leidenſchaften ſchlechthin häßlich iſt. Die Gemeinheit dieſer Vorausſetzung wirkt durch die ganze Reihe der Er¬ zählungen hin ähnlich, wie in Ben Jonſons Epicöne (oder das ſtumme Frauenzimmer, überſetzt von Tieck, auf¬ genommen in ſeine ſämmtlichen Werke Bd. 12.) die Baſis des Stücks, daß ein Heirathsvertrag propter frigiditatem wieder zurückgenommen werden ſoll. Eine eigenthümliche Gruppe des Häßlichen bieten hier noch diejenigen Darſtellungen, die nicht im Sinne der Lüſternheit oder Zweideutigkeit ſchamlos ſind und dennoch das Schamgefühl tief verletzen, weil ſie einen Inhalt, den wir von der Muſe der Geſchichte mit unbefangenem Ernſt aufnehmen würden, poetiſch machen wollen. Es gibt eine Offenheit der Corruption, die zu einer verkehrten Unſchuld wird. Man kann gewiſſen Darſtellungen nicht den Vor¬ wurf machen, daß ſie die Wolluſt durch Verſchleirung pikanter ſchilderten oder umgekehrt, die Sinne zu beſtechen, einen beſondern Aufwand trieben. Ihre Treue in den Ge¬ mälden der phyſiſchen und ethiſchen Verworfenheit, ihre peinlich genaue Anatomie der Gemeinheit, läßt uns gegen ſie nicht den Vorwurf erheben, daß wir durch halbverrathene Reize verführt oder durch kokette Farben überwältigt würden, allein gerade weil dieſe Entſchuldigung fehlt, iſt die Wirkung ſolcher Producte eine um ſo ekelhaftere. Wenn ein Sue¬ tonius und Tacitus uns mit objectiver Wahrheitsliebe der¬ 16 *

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/265>, abgerufen am 22.11.2024.