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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Witz und technischer Virtuosität sie auch gemacht seien.
Man sehe die Uebersicht der weitläufigen, hiehergehörigen
Romanliteratur in O. L. B. Wolf's Geschichte des Romans
(48). In der Malerei fingen die Pornographen, welche die
verschiedenen tropoi tes Aphrodites darstellten, zur Zeit
Alexanders an; für die moderne Welt haben die bekannten
Bilder des Pietro von Arezzo und die von Julio Romano
gezeichneten von Raimondi gestochenen Figuren den Grund zu
solchen Darstellungen gelegt. Im Roman hat Petronius
mit seinem Satyrikon das Fundament solcher obscön
wollüstigen Schilderungen mit einer gewissen Großheit der
Anschauung gegeben, die seinen Nachfolgern fehlt. Nichts
wohl ist für diese infame Gattung charakteristischer, als
daß Sad e, der sogenannte König der Galeerensclaven, in
ihr der vornehmste Classiker geworden ist. Die blasirten
Nerven jener Wüstlinge, die Alles durchgenossen haben,
kitzeln sich noch in der Phantasie mit solchen Raffinements
auf. Eine traurige Erscheinung der neueren Zeit, daß solche
obscöne Schriften und Bilder eine immer größere Verbrei¬
tung finden und, wie der Tourist Kohl erzählt, in den
Straßen Londons selbst der Jugend schon in die Hände ge¬
spielt werden. Auch unser modernes Ballet ist von solchen
Elementen inficirt und ästhetisch hauptsächlich dadurch so
sehr heruntergekommen, daß es nicht symbolisch die Leiden¬
schaft der Liebe, sondern die Zuckungen der Wollust darzu¬
stellen sucht. Diese Pirouetten und Windmühlengestalten,
dies freche himmelanschreiende Beinausstrecken und ekelhafte
Kreuzen von Tänzer und Tänzerin, werden für den Triumph
der Kunst gehalten. Da ist nicht mehr von idealer Schön¬
heit und Grazie, nur von gemeinem Kitzel die Rede. Der
Chahut und Cancan sind in dem Tanz der heutigen Ge¬

Witz und techniſcher Virtuoſität ſie auch gemacht ſeien.
Man ſehe die Ueberſicht der weitläufigen, hiehergehörigen
Romanliteratur in O. L. B. Wolf's Geſchichte des Romans
(48). In der Malerei fingen die Pornographen, welche die
verſchiedenen τϱόποι τῆς Ἀφϱοδίτης darſtellten, zur Zeit
Alexanders an; für die moderne Welt haben die bekannten
Bilder des Pietro von Arezzo und die von Julio Romano
gezeichneten von Raimondi geſtochenen Figuren den Grund zu
ſolchen Darſtellungen gelegt. Im Roman hat Petronius
mit ſeinem Satyrikon das Fundament ſolcher obscön
wollüſtigen Schilderungen mit einer gewiſſen Großheit der
Anſchauung gegeben, die ſeinen Nachfolgern fehlt. Nichts
wohl iſt für dieſe infame Gattung charakteriſtiſcher, als
daß Sad é, der ſogenannte König der Galeerenſclaven, in
ihr der vornehmſte Claſſiker geworden iſt. Die blaſirten
Nerven jener Wüſtlinge, die Alles durchgenoſſen haben,
kitzeln ſich noch in der Phantaſie mit ſolchen Raffinements
auf. Eine traurige Erſcheinung der neueren Zeit, daß ſolche
obscöne Schriften und Bilder eine immer größere Verbrei¬
tung finden und, wie der Touriſt Kohl erzählt, in den
Straßen Londons ſelbſt der Jugend ſchon in die Hände ge¬
ſpielt werden. Auch unſer modernes Ballet iſt von ſolchen
Elementen inficirt und äſthetiſch hauptſächlich dadurch ſo
ſehr heruntergekommen, daß es nicht ſymboliſch die Leiden¬
ſchaft der Liebe, ſondern die Zuckungen der Wolluſt darzu¬
ſtellen ſucht. Dieſe Pirouetten und Windmühlengeſtalten,
dies freche himmelanſchreiende Beinausſtrecken und ekelhafte
Kreuzen von Tänzer und Tänzerin, werden für den Triumph
der Kunſt gehalten. Da iſt nicht mehr von idealer Schön¬
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Chahut und Cancan ſind in dem Tanz der heutigen Ge¬

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[237/0259] Witz und techniſcher Virtuoſität ſie auch gemacht ſeien. Man ſehe die Ueberſicht der weitläufigen, hiehergehörigen Romanliteratur in O. L. B. Wolf's Geſchichte des Romans (48). In der Malerei fingen die Pornographen, welche die verſchiedenen τϱόποι τῆς Ἀφϱοδίτης darſtellten, zur Zeit Alexanders an; für die moderne Welt haben die bekannten Bilder des Pietro von Arezzo und die von Julio Romano gezeichneten von Raimondi geſtochenen Figuren den Grund zu ſolchen Darſtellungen gelegt. Im Roman hat Petronius mit ſeinem Satyrikon das Fundament ſolcher obscön wollüſtigen Schilderungen mit einer gewiſſen Großheit der Anſchauung gegeben, die ſeinen Nachfolgern fehlt. Nichts wohl iſt für dieſe infame Gattung charakteriſtiſcher, als daß Sad é, der ſogenannte König der Galeerenſclaven, in ihr der vornehmſte Claſſiker geworden iſt. Die blaſirten Nerven jener Wüſtlinge, die Alles durchgenoſſen haben, kitzeln ſich noch in der Phantaſie mit ſolchen Raffinements auf. Eine traurige Erſcheinung der neueren Zeit, daß ſolche obscöne Schriften und Bilder eine immer größere Verbrei¬ tung finden und, wie der Touriſt Kohl erzählt, in den Straßen Londons ſelbſt der Jugend ſchon in die Hände ge¬ ſpielt werden. Auch unſer modernes Ballet iſt von ſolchen Elementen inficirt und äſthetiſch hauptſächlich dadurch ſo ſehr heruntergekommen, daß es nicht ſymboliſch die Leiden¬ ſchaft der Liebe, ſondern die Zuckungen der Wolluſt darzu¬ ſtellen ſucht. Dieſe Pirouetten und Windmühlengeſtalten, dies freche himmelanſchreiende Beinausſtrecken und ekelhafte Kreuzen von Tänzer und Tänzerin, werden für den Triumph der Kunſt gehalten. Da iſt nicht mehr von idealer Schön¬ heit und Grazie, nur von gemeinem Kitzel die Rede. Der Chahut und Cancan ſind in dem Tanz der heutigen Ge¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/259>, abgerufen am 22.11.2024.