Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeit kann an dem Räumlichen majestätisch erscheinen, wenn
uns dasselbe die unendliche Reihe der Jahre, die es als ein
Entstandenes besteht, unmittelbar vergegenwärtigt. Das
Entstehen ist auch ein Vergehen. Ein Entstandenes, das
in der Flucht der Zeiten sich gleich bleibt, gewinnt da¬
durch den Anschein der Ewigkeit, aus deren Unendlichkeit
heraus der Strom der Zeit entspringt. Im Steppenlande
morgenwärts vom todten Meere hängen die Felsenthore,
durch welche die Moabiterkönige von Basan vor viertausend
Jahren aus- und einzogen, noch in denselben Angeln. Jetzt
sind es nur ärmliche Ziegenhirten, die sie passiren, aber die
Thore sind die nämlichen. Es versteht sich, daß der Gegen¬
stand, erhaben zu wirken, groß und mächtig sein muß; die
Dauer allein würde ihn nicht erhaben machen, auch wenn
er Jahrtausende unverändert existirte, wie z. B. im neuen
Berliner Museum ein Ziegel von denen gezeigt wird, welche
die Juden in Aegypten streichen mußten. Ein Ziegel wird
auch durch Ewigkeiten nicht erhaben. In der Geschichte
sind Personen, Thaten, Begebenheiten voller Majestät, wenn
sie positiv einzig sind und eine Gattung, eine ganze Welt
in sich concentriren. Ein Moses, ein Alexander, ein So¬
krates sind majestätisch erhabene Persönlichkeiten, weil sie
im positiven Sinn einzig sind. Daß Sokrates nicht floh,
daß er nicht durch rhetorische Kunst die Richter zu bestechen
suchte, daß er den Tod im Kerker mit heiterem Ernst
erwartete, -- was Alles nämlich Menschen gewöhnlichen
Schlages nicht würden gethan haben, -- gibt ihm den
majestätischen Nimbus. So ist der Brand von Moskau
eine furchtbar majestätische Begebenheit, weil der Widerstand
der Russen in diesem erhabenen Brandopfer sich auf eine
welthistorisch einzige Weise concentrirte. Drücken Personen

Zeit kann an dem Räumlichen majeſtätiſch erſcheinen, wenn
uns daſſelbe die unendliche Reihe der Jahre, die es als ein
Entſtandenes beſteht, unmittelbar vergegenwärtigt. Das
Entſtehen iſt auch ein Vergehen. Ein Entſtandenes, das
in der Flucht der Zeiten ſich gleich bleibt, gewinnt da¬
durch den Anſchein der Ewigkeit, aus deren Unendlichkeit
heraus der Strom der Zeit entſpringt. Im Steppenlande
morgenwärts vom todten Meere hängen die Felſenthore,
durch welche die Moabiterkönige von Baſan vor viertauſend
Jahren aus- und einzogen, noch in denſelben Angeln. Jetzt
ſind es nur ärmliche Ziegenhirten, die ſie paſſiren, aber die
Thore ſind die nämlichen. Es verſteht ſich, daß der Gegen¬
ſtand, erhaben zu wirken, groß und mächtig ſein muß; die
Dauer allein würde ihn nicht erhaben machen, auch wenn
er Jahrtauſende unverändert exiſtirte, wie z. B. im neuen
Berliner Muſeum ein Ziegel von denen gezeigt wird, welche
die Juden in Aegypten ſtreichen mußten. Ein Ziegel wird
auch durch Ewigkeiten nicht erhaben. In der Geſchichte
ſind Perſonen, Thaten, Begebenheiten voller Majeſtät, wenn
ſie poſitiv einzig ſind und eine Gattung, eine ganze Welt
in ſich concentriren. Ein Moſes, ein Alexander, ein So¬
krates ſind majeſtätiſch erhabene Perſönlichkeiten, weil ſie
im poſitiven Sinn einzig ſind. Daß Sokrates nicht floh,
daß er nicht durch rhetoriſche Kunſt die Richter zu beſtechen
ſuchte, daß er den Tod im Kerker mit heiterem Ernſt
erwartete, — was Alles nämlich Menſchen gewöhnlichen
Schlages nicht würden gethan haben, — gibt ihm den
majeſtätiſchen Nimbus. So iſt der Brand von Moskau
eine furchtbar majeſtätiſche Begebenheit, weil der Widerſtand
der Ruſſen in dieſem erhabenen Brandopfer ſich auf eine
welthiſtoriſch einzige Weiſe concentrirte. Drücken Perſonen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0222" n="200"/>
Zeit kann an dem Räumlichen maje&#x017F;täti&#x017F;ch er&#x017F;cheinen, wenn<lb/>
uns da&#x017F;&#x017F;elbe die unendliche Reihe der Jahre, die es als ein<lb/>
Ent&#x017F;tandenes be&#x017F;teht, unmittelbar vergegenwärtigt. Das<lb/>
Ent&#x017F;tehen i&#x017F;t auch ein Vergehen. Ein Ent&#x017F;tandenes, das<lb/>
in der Flucht der Zeiten &#x017F;ich gleich bleibt, gewinnt da¬<lb/>
durch den An&#x017F;chein der Ewigkeit, aus deren Unendlichkeit<lb/>
heraus der Strom der Zeit ent&#x017F;pringt. Im Steppenlande<lb/>
morgenwärts vom todten Meere hängen die Fel&#x017F;enthore,<lb/>
durch welche die Moabiterkönige von Ba&#x017F;an vor viertau&#x017F;end<lb/>
Jahren aus- und einzogen, noch in den&#x017F;elben Angeln. Jetzt<lb/>
&#x017F;ind es nur ärmliche Ziegenhirten, die &#x017F;ie pa&#x017F;&#x017F;iren, aber die<lb/>
Thore &#x017F;ind die nämlichen. Es ver&#x017F;teht &#x017F;ich, daß der Gegen¬<lb/>
&#x017F;tand, erhaben zu wirken, groß und mächtig &#x017F;ein muß; die<lb/>
Dauer allein würde ihn nicht erhaben machen, auch wenn<lb/>
er Jahrtau&#x017F;ende unverändert exi&#x017F;tirte, wie z. B. im neuen<lb/>
Berliner Mu&#x017F;eum ein Ziegel von denen gezeigt wird, welche<lb/>
die Juden in Aegypten &#x017F;treichen mußten. Ein Ziegel wird<lb/>
auch durch Ewigkeiten nicht erhaben. In der Ge&#x017F;chichte<lb/>
&#x017F;ind Per&#x017F;onen, Thaten, Begebenheiten voller Maje&#x017F;tät, wenn<lb/>
&#x017F;ie po&#x017F;itiv einzig &#x017F;ind und eine Gattung, eine ganze Welt<lb/>
in &#x017F;ich concentriren. Ein Mo&#x017F;es, ein Alexander, ein So¬<lb/>
krates &#x017F;ind maje&#x017F;täti&#x017F;ch erhabene Per&#x017F;önlichkeiten, weil &#x017F;ie<lb/>
im po&#x017F;itiven Sinn einzig &#x017F;ind. Daß Sokrates nicht floh,<lb/>
daß er nicht durch rhetori&#x017F;che Kun&#x017F;t die Richter zu be&#x017F;techen<lb/>
&#x017F;uchte, daß er den Tod im Kerker mit heiterem Ern&#x017F;t<lb/>
erwartete, &#x2014; was Alles nämlich Men&#x017F;chen gewöhnlichen<lb/>
Schlages nicht würden gethan haben, &#x2014; gibt ihm den<lb/>
maje&#x017F;täti&#x017F;chen Nimbus. So i&#x017F;t der Brand von Moskau<lb/>
eine furchtbar maje&#x017F;täti&#x017F;che Begebenheit, weil der Wider&#x017F;tand<lb/>
der Ru&#x017F;&#x017F;en in die&#x017F;em erhabenen Brandopfer &#x017F;ich auf eine<lb/>
welthi&#x017F;tori&#x017F;ch einzige Wei&#x017F;e concentrirte. Drücken Per&#x017F;onen<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0222] Zeit kann an dem Räumlichen majeſtätiſch erſcheinen, wenn uns daſſelbe die unendliche Reihe der Jahre, die es als ein Entſtandenes beſteht, unmittelbar vergegenwärtigt. Das Entſtehen iſt auch ein Vergehen. Ein Entſtandenes, das in der Flucht der Zeiten ſich gleich bleibt, gewinnt da¬ durch den Anſchein der Ewigkeit, aus deren Unendlichkeit heraus der Strom der Zeit entſpringt. Im Steppenlande morgenwärts vom todten Meere hängen die Felſenthore, durch welche die Moabiterkönige von Baſan vor viertauſend Jahren aus- und einzogen, noch in denſelben Angeln. Jetzt ſind es nur ärmliche Ziegenhirten, die ſie paſſiren, aber die Thore ſind die nämlichen. Es verſteht ſich, daß der Gegen¬ ſtand, erhaben zu wirken, groß und mächtig ſein muß; die Dauer allein würde ihn nicht erhaben machen, auch wenn er Jahrtauſende unverändert exiſtirte, wie z. B. im neuen Berliner Muſeum ein Ziegel von denen gezeigt wird, welche die Juden in Aegypten ſtreichen mußten. Ein Ziegel wird auch durch Ewigkeiten nicht erhaben. In der Geſchichte ſind Perſonen, Thaten, Begebenheiten voller Majeſtät, wenn ſie poſitiv einzig ſind und eine Gattung, eine ganze Welt in ſich concentriren. Ein Moſes, ein Alexander, ein So¬ krates ſind majeſtätiſch erhabene Perſönlichkeiten, weil ſie im poſitiven Sinn einzig ſind. Daß Sokrates nicht floh, daß er nicht durch rhetoriſche Kunſt die Richter zu beſtechen ſuchte, daß er den Tod im Kerker mit heiterem Ernſt erwartete, — was Alles nämlich Menſchen gewöhnlichen Schlages nicht würden gethan haben, — gibt ihm den majeſtätiſchen Nimbus. So iſt der Brand von Moskau eine furchtbar majeſtätiſche Begebenheit, weil der Widerſtand der Ruſſen in dieſem erhabenen Brandopfer ſich auf eine welthiſtoriſch einzige Weiſe concentrirte. Drücken Perſonen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/222
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/222>, abgerufen am 24.11.2024.