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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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gestalt als Anhalt zu fixiren. Allein gerade in der Plastik
finden wir auch Abweichungen von den positiven natürlichen
Verhältnissen, die, nur empirisch genommen, Incorrectheit
genannt werden könnten. Es sind diejenigen, die sich durch
das Bedürfniß einer höhern Harmonie rechtfertigen, wie schon
früherhin bei dem allgemeinen Begriff des Incorrecten be¬
merkt worden. Eine wesentliche Norm wird freilich niemals
verletzt werden dürfen, wohl aber sind jene zarten, leisen
Abweichungen von der natürlichen Richtigkeit gestattet, welche
dem geistigen Gehalt erst die volle Realisirung seiner Eigen¬
thümlichkeit möglich machen, wie z.B. bekanntlich der Bauch
des Vatikanischen Apollo anatomisch vielleicht nicht ganz
correct ist; wir werden dies aber nicht als einen Fehler ge¬
wahr, weil die Schlankheit der Gestalt durch die Schmäch¬
tigkeit der Hüften eine eigenthümliche vom Boden zum Himmel
aufschwebende Elasticität empfängt, die mit der Begeisterung
des Hauptes harmonirt. Auch colossale Formen würden im
Sinn der empirischen Nichtigkeit nicht correct sein; für be¬
stimmte Zwecke aber, erhabene Effecte hervorzubringen, können
sie für die Kunst vollkommen correct werden. Dennoch wird
es bei ihnen auf den Grad des Maaßes und auf die In¬
dividualität des Gegenstandes ankommen. Auf das Maaß,
denn es darf nicht so groß sein, daß die Auffassung der
Einheit der Gestalt darunter leidet; auf den Gegenstand,
denn er muß, schön zu sein an sich eine edle Form haben.
Die colossalen Stiere und Löwen in den Palästen von
Niniveh sind schön, denn Stier und Löwe bieten an sich
edle Formen dar; stellen wir uns aber vor, daß ein Künstler
eine auf den Hinterfüßen sitzende Ratte, wenn auch noch
so vollkommen, als ein plastisches Werk bilden wollte, so
würde dasselbe unter allen Umständen scheußlich sein. Das

geſtalt als Anhalt zu fixiren. Allein gerade in der Plaſtik
finden wir auch Abweichungen von den poſitiven natürlichen
Verhältniſſen, die, nur empiriſch genommen, Incorrectheit
genannt werden könnten. Es ſind diejenigen, die ſich durch
das Bedürfniß einer höhern Harmonie rechtfertigen, wie ſchon
früherhin bei dem allgemeinen Begriff des Incorrecten be¬
merkt worden. Eine weſentliche Norm wird freilich niemals
verletzt werden dürfen, wohl aber ſind jene zarten, leiſen
Abweichungen von der natürlichen Richtigkeit geſtattet, welche
dem geiſtigen Gehalt erſt die volle Realiſirung ſeiner Eigen¬
thümlichkeit möglich machen, wie z.B. bekanntlich der Bauch
des Vatikaniſchen Apollo anatomiſch vielleicht nicht ganz
correct iſt; wir werden dies aber nicht als einen Fehler ge¬
wahr, weil die Schlankheit der Geſtalt durch die Schmäch¬
tigkeit der Hüften eine eigenthümliche vom Boden zum Himmel
aufſchwebende Elaſticität empfängt, die mit der Begeiſterung
des Hauptes harmonirt. Auch coloſſale Formen würden im
Sinn der empiriſchen Nichtigkeit nicht correct ſein; für be¬
ſtimmte Zwecke aber, erhabene Effecte hervorzubringen, können
ſie für die Kunſt vollkommen correct werden. Dennoch wird
es bei ihnen auf den Grad des Maaßes und auf die In¬
dividualität des Gegenſtandes ankommen. Auf das Maaß,
denn es darf nicht ſo groß ſein, daß die Auffaſſung der
Einheit der Geſtalt darunter leidet; auf den Gegenſtand,
denn er muß, ſchön zu ſein an ſich eine edle Form haben.
Die coloſſalen Stiere und Löwen in den Paläſten von
Niniveh ſind ſchön, denn Stier und Löwe bieten an ſich
edle Formen dar; ſtellen wir uns aber vor, daß ein Künſtler
eine auf den Hinterfüßen ſitzende Ratte, wenn auch noch
ſo vollkommen, als ein plaſtiſches Werk bilden wollte, ſo
würde daſſelbe unter allen Umſtänden ſcheußlich ſein. Das

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[152/0174] geſtalt als Anhalt zu fixiren. Allein gerade in der Plaſtik finden wir auch Abweichungen von den poſitiven natürlichen Verhältniſſen, die, nur empiriſch genommen, Incorrectheit genannt werden könnten. Es ſind diejenigen, die ſich durch das Bedürfniß einer höhern Harmonie rechtfertigen, wie ſchon früherhin bei dem allgemeinen Begriff des Incorrecten be¬ merkt worden. Eine weſentliche Norm wird freilich niemals verletzt werden dürfen, wohl aber ſind jene zarten, leiſen Abweichungen von der natürlichen Richtigkeit geſtattet, welche dem geiſtigen Gehalt erſt die volle Realiſirung ſeiner Eigen¬ thümlichkeit möglich machen, wie z.B. bekanntlich der Bauch des Vatikaniſchen Apollo anatomiſch vielleicht nicht ganz correct iſt; wir werden dies aber nicht als einen Fehler ge¬ wahr, weil die Schlankheit der Geſtalt durch die Schmäch¬ tigkeit der Hüften eine eigenthümliche vom Boden zum Himmel aufſchwebende Elaſticität empfängt, die mit der Begeiſterung des Hauptes harmonirt. Auch coloſſale Formen würden im Sinn der empiriſchen Nichtigkeit nicht correct ſein; für be¬ ſtimmte Zwecke aber, erhabene Effecte hervorzubringen, können ſie für die Kunſt vollkommen correct werden. Dennoch wird es bei ihnen auf den Grad des Maaßes und auf die In¬ dividualität des Gegenſtandes ankommen. Auf das Maaß, denn es darf nicht ſo groß ſein, daß die Auffaſſung der Einheit der Geſtalt darunter leidet; auf den Gegenſtand, denn er muß, ſchön zu ſein an ſich eine edle Form haben. Die coloſſalen Stiere und Löwen in den Paläſten von Niniveh ſind ſchön, denn Stier und Löwe bieten an ſich edle Formen dar; ſtellen wir uns aber vor, daß ein Künſtler eine auf den Hinterfüßen ſitzende Ratte, wenn auch noch ſo vollkommen, als ein plaſtiſches Werk bilden wollte, ſo würde daſſelbe unter allen Umſtänden ſcheußlich ſein. Das

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/174>, abgerufen am 22.11.2024.