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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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ihr Kunststyl werden. Eine Nation verfügt nicht frei über
ihr Schicksal; sie ist in den ungeheuren Zusammenhang des
ganzen Weltlebens eingegliedert und wird oft durch Be¬
dingungen in ihrer Existenz beschränkt, die ihr lange ver¬
borgen bleiben, die ihr sogar zuweilen erst in der tragischen
Epoche ihres Unterganges klar werden. In dem National¬
styl können sich deshalb Formen entwickeln, welche zwar der
Eigenthümlichkeit der Nation entsprechen, jedoch zugleich so
sehr mit der unvermeidlichen, besondern Beschränkheit ihres
Selbstgefühls verwachsen sind, daß sie mit den absoluten
Forderungen des Ideals nicht übereinstimmen und, einmal
zur Gewohnheit, zum allgemeinen Vorurtheil geworden, ihre
Kunst auf einem unvollkommneren Standpunct festhalten. Ein
Volk setzt dann bei seinen Künstlern stillschweigend die Be¬
folgung dieser habituellen Normen voraus; sie werden,
indem die Zeit ihre Herrschaft befestigt, zu einem empirischen
Ideal, an welchem man die Correctheit mißt. Was nicht
innerhalb der Schranken desselben hervorgebracht wird, gilt
alsdann einem Volk für incorrect. Wir bedienen uns ganz
richtig, um das Problematische des hier entspringenden Ur¬
theils zu bezeichnen, des Ausdrucks Nationalgeschmack
für die individuelle Typik in der Kunst einer Nation.

Es versteht sich, daß der Nationalgeschmack mit den
Forderungen des Ideals zusammenfallen kann; eben sowohl
aber kann auch das Gegentheil stattfinden. In diesem letztern
Fall wird es möglich, daß der Künstler gerade dadurch, daß
er im höchsten Sinne des Worts correct ist, im Sinne des
Nationalstyls incorrect wird. Der Künstler, dem absoluten
Gebote der Kunst getreu, geräth durch diesen Gehorsam in
Widerspruch mit dem empirisch fixirten Ideal. In China
z. B. hat sich die Architektur als Holzbau entwickelt. Um

ihr Kunſtſtyl werden. Eine Nation verfügt nicht frei über
ihr Schickſal; ſie iſt in den ungeheuren Zuſammenhang des
ganzen Weltlebens eingegliedert und wird oft durch Be¬
dingungen in ihrer Exiſtenz beſchränkt, die ihr lange ver¬
borgen bleiben, die ihr ſogar zuweilen erſt in der tragiſchen
Epoche ihres Unterganges klar werden. In dem National¬
ſtyl können ſich deshalb Formen entwickeln, welche zwar der
Eigenthümlichkeit der Nation entſprechen, jedoch zugleich ſo
ſehr mit der unvermeidlichen, beſondern Beſchränkheit ihres
Selbſtgefühls verwachſen ſind, daß ſie mit den abſoluten
Forderungen des Ideals nicht übereinſtimmen und, einmal
zur Gewohnheit, zum allgemeinen Vorurtheil geworden, ihre
Kunſt auf einem unvollkommneren Standpunct feſthalten. Ein
Volk ſetzt dann bei ſeinen Künſtlern ſtillſchweigend die Be¬
folgung dieſer habituellen Normen voraus; ſie werden,
indem die Zeit ihre Herrſchaft befeſtigt, zu einem empiriſchen
Ideal, an welchem man die Correctheit mißt. Was nicht
innerhalb der Schranken deſſelben hervorgebracht wird, gilt
alsdann einem Volk für incorrect. Wir bedienen uns ganz
richtig, um das Problematiſche des hier entſpringenden Ur¬
theils zu bezeichnen, des Ausdrucks Nationalgeſchmack
für die individuelle Typik in der Kunſt einer Nation.

Es verſteht ſich, daß der Nationalgeſchmack mit den
Forderungen des Ideals zuſammenfallen kann; eben ſowohl
aber kann auch das Gegentheil ſtattfinden. In dieſem letztern
Fall wird es möglich, daß der Künſtler gerade dadurch, daß
er im höchſten Sinne des Worts correct iſt, im Sinne des
Nationalſtyls incorrect wird. Der Künſtler, dem abſoluten
Gebote der Kunſt getreu, geräth durch dieſen Gehorſam in
Widerſpruch mit dem empiriſch fixirten Ideal. In China
z. B. hat ſich die Architektur als Holzbau entwickelt. Um

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[142/0164] ihr Kunſtſtyl werden. Eine Nation verfügt nicht frei über ihr Schickſal; ſie iſt in den ungeheuren Zuſammenhang des ganzen Weltlebens eingegliedert und wird oft durch Be¬ dingungen in ihrer Exiſtenz beſchränkt, die ihr lange ver¬ borgen bleiben, die ihr ſogar zuweilen erſt in der tragiſchen Epoche ihres Unterganges klar werden. In dem National¬ ſtyl können ſich deshalb Formen entwickeln, welche zwar der Eigenthümlichkeit der Nation entſprechen, jedoch zugleich ſo ſehr mit der unvermeidlichen, beſondern Beſchränkheit ihres Selbſtgefühls verwachſen ſind, daß ſie mit den abſoluten Forderungen des Ideals nicht übereinſtimmen und, einmal zur Gewohnheit, zum allgemeinen Vorurtheil geworden, ihre Kunſt auf einem unvollkommneren Standpunct feſthalten. Ein Volk ſetzt dann bei ſeinen Künſtlern ſtillſchweigend die Be¬ folgung dieſer habituellen Normen voraus; ſie werden, indem die Zeit ihre Herrſchaft befeſtigt, zu einem empiriſchen Ideal, an welchem man die Correctheit mißt. Was nicht innerhalb der Schranken deſſelben hervorgebracht wird, gilt alsdann einem Volk für incorrect. Wir bedienen uns ganz richtig, um das Problematiſche des hier entſpringenden Ur¬ theils zu bezeichnen, des Ausdrucks Nationalgeſchmack für die individuelle Typik in der Kunſt einer Nation. Es verſteht ſich, daß der Nationalgeſchmack mit den Forderungen des Ideals zuſammenfallen kann; eben ſowohl aber kann auch das Gegentheil ſtattfinden. In dieſem letztern Fall wird es möglich, daß der Künſtler gerade dadurch, daß er im höchſten Sinne des Worts correct iſt, im Sinne des Nationalſtyls incorrect wird. Der Künſtler, dem abſoluten Gebote der Kunſt getreu, geräth durch dieſen Gehorſam in Widerſpruch mit dem empiriſch fixirten Ideal. In China z. B. hat ſich die Architektur als Holzbau entwickelt. Um

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/164>, abgerufen am 25.11.2024.