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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Schiller's Don Carlos ist nicht völlig der historische und
doch ist er es, denn nicht nur schildert er die tragische
Situation eines Prinzen, der so unglücklich ist, durch Talent
und Gesinnung den Argwohn eines tyrannischen Vaters gegen
sich zu haben und seine junge, ihm selbst zuerst als Gattin
zugedacht gewesene Stiefmutter zu lieben, sondern er schildert
auch diese Tragik in der Individualisirung des Spanischen
Geistes und seiner Hofetiquette. Fouqu e hat uns in seinem
Don Carlos den richtigen, den empirisch treuen, den
historisch correcten Don Carlos gegeben -- so viel wir näm¬
lich von ihm überhaupt wissen -- aber dieser Infant von
Spanien ist der Welt so gut wie unbekannt geblieben, denn
es fehlt ihm doch von der Geschichte das, was ihr Element
ist -- der Geist. -- Obwohl nun die Kunst im Historischen,
sofern sie dessen ideale Wahrheit erreicht, einer gewissen
Freiheit genießt, so wird doch jeder wahrhafte Künstler sich
auch um die historische Treue schon um deswillen bemühen,
weil sie ihm ein so glückliches Mittel der Individualisirung
darbietet. Nur dasjenige wird er von ihr zurückweisen, was
ihn in seinen ästhetischen Zwecken geradezu hemmt und nur
dasjenige umbilden, was die Harmonie der idealen Wahrheit
beeinträchtigt. Man durchlaufe die Werke großer Meister,
ob man sie der Vernachlässigung des geschichtlichen Colorits
bezüchtigen könne. Wie sehr ist Raphael in seinen Logen,
ohne alle ängstliche Akribie, doch historisch genau gewesen!
Man frage sich, ob Shakespeare in seinen Römer¬
tragödien
die historische Wahrheit nicht nur im Ganzen
festgehalten, vielmehr auch bis in die individuellsten Be¬
ziehungen hin getroffen habe? Man frage sich, ob z. B. seine
Cleopatra etwa nur ein schönes, heißblütiges, wollüstiges,
großherrscherisches Weib überhaupt, oder ob sie nicht auch

Schiller's Don Carlos iſt nicht völlig der hiſtoriſche und
doch iſt er es, denn nicht nur ſchildert er die tragiſche
Situation eines Prinzen, der ſo unglücklich iſt, durch Talent
und Geſinnung den Argwohn eines tyranniſchen Vaters gegen
ſich zu haben und ſeine junge, ihm ſelbſt zuerſt als Gattin
zugedacht geweſene Stiefmutter zu lieben, ſondern er ſchildert
auch dieſe Tragik in der Individualiſirung des Spaniſchen
Geiſtes und ſeiner Hofetiquette. Fouqu é hat uns in ſeinem
Don Carlos den richtigen, den empiriſch treuen, den
hiſtoriſch correcten Don Carlos gegeben — ſo viel wir näm¬
lich von ihm überhaupt wiſſen — aber dieſer Infant von
Spanien iſt der Welt ſo gut wie unbekannt geblieben, denn
es fehlt ihm doch von der Geſchichte das, was ihr Element
iſt — der Geiſt. — Obwohl nun die Kunſt im Hiſtoriſchen,
ſofern ſie deſſen ideale Wahrheit erreicht, einer gewiſſen
Freiheit genießt, ſo wird doch jeder wahrhafte Künſtler ſich
auch um die hiſtoriſche Treue ſchon um deswillen bemühen,
weil ſie ihm ein ſo glückliches Mittel der Individualiſirung
darbietet. Nur dasjenige wird er von ihr zurückweiſen, was
ihn in ſeinen äſthetiſchen Zwecken geradezu hemmt und nur
dasjenige umbilden, was die Harmonie der idealen Wahrheit
beeinträchtigt. Man durchlaufe die Werke großer Meiſter,
ob man ſie der Vernachläſſigung des geſchichtlichen Colorits
bezüchtigen könne. Wie ſehr iſt Raphael in ſeinen Logen,
ohne alle ängſtliche Akribie, doch hiſtoriſch genau geweſen!
Man frage ſich, ob Shakeſpeare in ſeinen Römer¬
tragödien
die hiſtoriſche Wahrheit nicht nur im Ganzen
feſtgehalten, vielmehr auch bis in die individuellſten Be¬
ziehungen hin getroffen habe? Man frage ſich, ob z. B. ſeine
Cleopatra etwa nur ein ſchönes, heißblütiges, wollüſtiges,
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[127/0149] Schiller's Don Carlos iſt nicht völlig der hiſtoriſche und doch iſt er es, denn nicht nur ſchildert er die tragiſche Situation eines Prinzen, der ſo unglücklich iſt, durch Talent und Geſinnung den Argwohn eines tyranniſchen Vaters gegen ſich zu haben und ſeine junge, ihm ſelbſt zuerſt als Gattin zugedacht geweſene Stiefmutter zu lieben, ſondern er ſchildert auch dieſe Tragik in der Individualiſirung des Spaniſchen Geiſtes und ſeiner Hofetiquette. Fouqu é hat uns in ſeinem Don Carlos den richtigen, den empiriſch treuen, den hiſtoriſch correcten Don Carlos gegeben — ſo viel wir näm¬ lich von ihm überhaupt wiſſen — aber dieſer Infant von Spanien iſt der Welt ſo gut wie unbekannt geblieben, denn es fehlt ihm doch von der Geſchichte das, was ihr Element iſt — der Geiſt. — Obwohl nun die Kunſt im Hiſtoriſchen, ſofern ſie deſſen ideale Wahrheit erreicht, einer gewiſſen Freiheit genießt, ſo wird doch jeder wahrhafte Künſtler ſich auch um die hiſtoriſche Treue ſchon um deswillen bemühen, weil ſie ihm ein ſo glückliches Mittel der Individualiſirung darbietet. Nur dasjenige wird er von ihr zurückweiſen, was ihn in ſeinen äſthetiſchen Zwecken geradezu hemmt und nur dasjenige umbilden, was die Harmonie der idealen Wahrheit beeinträchtigt. Man durchlaufe die Werke großer Meiſter, ob man ſie der Vernachläſſigung des geſchichtlichen Colorits bezüchtigen könne. Wie ſehr iſt Raphael in ſeinen Logen, ohne alle ängſtliche Akribie, doch hiſtoriſch genau geweſen! Man frage ſich, ob Shakeſpeare in ſeinen Römer¬ tragödien die hiſtoriſche Wahrheit nicht nur im Ganzen feſtgehalten, vielmehr auch bis in die individuellſten Be¬ ziehungen hin getroffen habe? Man frage ſich, ob z. B. ſeine Cleopatra etwa nur ein ſchönes, heißblütiges, wollüſtiges, großherrſcheriſches Weib überhaupt, oder ob ſie nicht auch

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/149>, abgerufen am 23.11.2024.