die Geographie des Mährchens ist phantastisch. Für die da¬ maligen Engländer war Böhmen eben ein fernes Land, ein Land überhaupt, eben so historisch für das Mährchen, als dessen Könige und Zauberer. In Gutzkow's Richard Savage treffen wir auf einen Anachronismus, der eine Incorrectheit genannt zu werden verdient. Savage unterredet sich mit dem bekannten Journalisten Steele. Dieser will den melancholisch Grübelnden zerstreuen und sagt zu ihm: "Sieh einmal, ich bemitleide Dich und mich, daß Du uns aus der Stickluft Londons entführt wirst; aber Botany Bay, mein Freund (ich muß ihn zu trösten suchen) -- ver¬ lohnt wirklich einmal ein gründliches Studium. Für mein Journal ist es mir ungeheuer viel werth, dort einen Cor¬ respondenten zu haben." Gutzkow gibt auf dem Personen¬ verzeichniß die Zeit seines Drama's selber 172 * an; er ist zu gut geschult, nicht zu wissen, daß damals Oceanien noch gar nicht entdeckt war; für die humanitären Gedanken, die Steele ferner ausspricht, war Botany Bay gar nicht er¬ forderlich; der Anachronismus ist also ganz unmotivirt und diese Absichtlichkeit in der Ueberflüssigkeit macht ihn incorrect.
Kann nun die Kunst in solchen Dingen sich gegen die Correctheit gleichgültiger verhalten, so darf sie es doch nicht gegen diejenige, in welcher der poetische Nerv liegt. Ein Abweichen von derjenigen Richtigkeit, die ein Ausdruck der Wahrheit der Handlung, ihrer entsprechenden physiogno¬ mischen, pathognomischen und rhetorischen Erscheinung ist, würde zugleich eine Zerstörung des idealen Wesens sein, ohne welche das Kunstwerk nicht als ein schönes bestehen kann. Die Malerei liefert uns sehr interessante Beispiele, wie die Trefflichkeit der Composition, die historische Incon¬ gruenz der Form kann übersehen lassen. Die Eyksche
die Geographie des Mährchens iſt phantaſtiſch. Für die da¬ maligen Engländer war Böhmen eben ein fernes Land, ein Land überhaupt, eben ſo hiſtoriſch für das Mährchen, als deſſen Könige und Zauberer. In Gutzkow's Richard Savage treffen wir auf einen Anachronismus, der eine Incorrectheit genannt zu werden verdient. Savage unterredet ſich mit dem bekannten Journaliſten Steele. Dieſer will den melancholiſch Grübelnden zerſtreuen und ſagt zu ihm: „Sieh einmal, ich bemitleide Dich und mich, daß Du uns aus der Stickluft Londons entführt wirſt; aber Botany Bay, mein Freund (ich muß ihn zu tröſten ſuchen) — ver¬ lohnt wirklich einmal ein gründliches Studium. Für mein Journal iſt es mir ungeheuer viel werth, dort einen Cor¬ reſpondenten zu haben.“ Gutzkow gibt auf dem Perſonen¬ verzeichniß die Zeit ſeines Drama’s ſelber 172 * an; er iſt zu gut geſchult, nicht zu wiſſen, daß damals Oceanien noch gar nicht entdeckt war; für die humanitären Gedanken, die Steele ferner ausſpricht, war Botany Bay gar nicht er¬ forderlich; der Anachronismus iſt alſo ganz unmotivirt und dieſe Abſichtlichkeit in der Ueberflüſſigkeit macht ihn incorrect.
Kann nun die Kunſt in ſolchen Dingen ſich gegen die Correctheit gleichgültiger verhalten, ſo darf ſie es doch nicht gegen diejenige, in welcher der poetiſche Nerv liegt. Ein Abweichen von derjenigen Richtigkeit, die ein Ausdruck der Wahrheit der Handlung, ihrer entſprechenden phyſiogno¬ miſchen, pathognomiſchen und rhetoriſchen Erſcheinung iſt, würde zugleich eine Zerſtörung des idealen Weſens ſein, ohne welche das Kunſtwerk nicht als ein ſchönes beſtehen kann. Die Malerei liefert uns ſehr intereſſante Beiſpiele, wie die Trefflichkeit der Compoſition, die hiſtoriſche Incon¬ gruenz der Form kann überſehen laſſen. Die Eykſche
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die Geographie des Mährchens iſt phantaſtiſch. Für die da¬
maligen Engländer war Böhmen eben ein fernes Land,
ein Land überhaupt, eben ſo hiſtoriſch für das Mährchen,
als deſſen Könige und Zauberer. In Gutzkow's Richard
Savage treffen wir auf einen Anachronismus, der eine
Incorrectheit genannt zu werden verdient. Savage unterredet
ſich mit dem bekannten Journaliſten Steele. Dieſer will
den melancholiſch Grübelnden zerſtreuen und ſagt zu ihm:
„Sieh einmal, ich bemitleide Dich und mich, daß Du uns
aus der Stickluft Londons entführt wirſt; aber Botany
Bay, mein Freund (ich muß ihn zu tröſten ſuchen) — ver¬
lohnt wirklich einmal ein gründliches Studium. Für mein
Journal iſt es mir ungeheuer viel werth, dort einen Cor¬
reſpondenten zu haben.“ Gutzkow gibt auf dem Perſonen¬
verzeichniß die Zeit ſeines Drama’s ſelber 172 * an; er iſt
zu gut geſchult, nicht zu wiſſen, daß damals Oceanien noch
gar nicht entdeckt war; für die humanitären Gedanken, die
Steele ferner ausſpricht, war Botany Bay gar nicht er¬
forderlich; der Anachronismus iſt alſo ganz unmotivirt und
dieſe Abſichtlichkeit in der Ueberflüſſigkeit macht ihn incorrect.
Kann nun die Kunſt in ſolchen Dingen ſich gegen die
Correctheit gleichgültiger verhalten, ſo darf ſie es doch nicht
gegen diejenige, in welcher der poetiſche Nerv liegt. Ein
Abweichen von derjenigen Richtigkeit, die ein Ausdruck der
Wahrheit der Handlung, ihrer entſprechenden phyſiogno¬
miſchen, pathognomiſchen und rhetoriſchen Erſcheinung iſt,
würde zugleich eine Zerſtörung des idealen Weſens ſein,
ohne welche das Kunſtwerk nicht als ein ſchönes beſtehen
kann. Die Malerei liefert uns ſehr intereſſante Beiſpiele,
wie die Trefflichkeit der Compoſition, die hiſtoriſche Incon¬
gruenz der Form kann überſehen laſſen. Die Eykſche
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/147>, abgerufen am 23.11.2024.
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