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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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auf der Bühne ihr Wesen für sich, als gingen die übrigen
sie nichts an. Das Spiel der Einzelnen greift nicht inein¬
ander; die Handlung stockt beständig und der Eindruck des
fehlenden Ensemble muß, zumal bei schwachbesetztem Hause,
ein öder und frostiger werden; ja zuweilen, wenn die Schau¬
spieler zu sehr vom Souffleur abhängen und nur lauter her¬
sagen, was man von dem heisernen Flüstern seiner Orkus¬
stimme schon vorvernommen hat, ist der Eindruck nicht sehr
weit von dem entfernt, den die Kranken in einer Irren¬
anstalt machen, von denen auch ein jeder rücksichtslos seine
Rolle fortspielt.

Vernichtet sich die Einheit der Unterschiede dadurch,
daß sie in den Widerspruch übergehen, ohne in die Einheit
zurückzugehen, so entsteht diejenige Entzweiung, die wir vor¬
zugsweise und mit Recht als Disharmonie bezeichnen. Ein
solcher Widerspruch ist häßlich, weil er die fundamentale
Bedingung aller ästhetischen Gestaltung, die Einheit, von
Innen heraus zerstört. Die Disharmonie ist nun zwar
an sich selbst häßlich, aber es muß sogleich unterschieden
werden zwischen der Disharmonie, die, als eine noth¬
wendige, doch schön, und zwischen derjenigen, die, als
eine zufällige, häßlich ist. Die nothwendige Dishar¬
monie ist der Conflict, in welchen die in einer Einheit
liegenden so zu sagen esoterischen Unterschiede durch ihre
gerechtfertigte Collision gerathen können; die zufällige ist
der gleichsam exoterische Widerspruch, der einer Einheit
octroyirt wird. Der nothwendige macht uns in dem un¬
geheuren Riß, den er aufklaffen läßt, die ganze Tiefe
der Einheit offenbar. Die Kraft der Harmonie erscheint
um so gewaltiger, je größer die Disharmonie ist, über
welche sie triumphirt, aber nicht nur muß die Ent¬

auf der Bühne ihr Weſen für ſich, als gingen die übrigen
ſie nichts an. Das Spiel der Einzelnen greift nicht inein¬
ander; die Handlung ſtockt beſtändig und der Eindruck des
fehlenden Enſemble muß, zumal bei ſchwachbeſetztem Hauſe,
ein öder und froſtiger werden; ja zuweilen, wenn die Schau¬
ſpieler zu ſehr vom Souffleur abhängen und nur lauter her¬
ſagen, was man von dem heiſernen Flüſtern ſeiner Orkus¬
ſtimme ſchon vorvernommen hat, iſt der Eindruck nicht ſehr
weit von dem entfernt, den die Kranken in einer Irren¬
anſtalt machen, von denen auch ein jeder rückſichtslos ſeine
Rolle fortſpielt.

Vernichtet ſich die Einheit der Unterſchiede dadurch,
daß ſie in den Widerſpruch übergehen, ohne in die Einheit
zurückzugehen, ſo entſteht diejenige Entzweiung, die wir vor¬
zugsweiſe und mit Recht als Disharmonie bezeichnen. Ein
ſolcher Widerſpruch iſt häßlich, weil er die fundamentale
Bedingung aller äſthetiſchen Geſtaltung, die Einheit, von
Innen heraus zerſtört. Die Disharmonie iſt nun zwar
an ſich ſelbſt häßlich, aber es muß ſogleich unterſchieden
werden zwiſchen der Disharmonie, die, als eine noth¬
wendige, doch ſchön, und zwiſchen derjenigen, die, als
eine zufällige, häßlich iſt. Die nothwendige Dishar¬
monie iſt der Conflict, in welchen die in einer Einheit
liegenden ſo zu ſagen eſoteriſchen Unterſchiede durch ihre
gerechtfertigte Colliſion gerathen können; die zufällige iſt
der gleichſam exoteriſche Widerſpruch, der einer Einheit
octroyirt wird. Der nothwendige macht uns in dem un¬
geheuren Riß, den er aufklaffen läßt, die ganze Tiefe
der Einheit offenbar. Die Kraft der Harmonie erſcheint
um ſo gewaltiger, je größer die Disharmonie iſt, über
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[104/0126] auf der Bühne ihr Weſen für ſich, als gingen die übrigen ſie nichts an. Das Spiel der Einzelnen greift nicht inein¬ ander; die Handlung ſtockt beſtändig und der Eindruck des fehlenden Enſemble muß, zumal bei ſchwachbeſetztem Hauſe, ein öder und froſtiger werden; ja zuweilen, wenn die Schau¬ ſpieler zu ſehr vom Souffleur abhängen und nur lauter her¬ ſagen, was man von dem heiſernen Flüſtern ſeiner Orkus¬ ſtimme ſchon vorvernommen hat, iſt der Eindruck nicht ſehr weit von dem entfernt, den die Kranken in einer Irren¬ anſtalt machen, von denen auch ein jeder rückſichtslos ſeine Rolle fortſpielt. Vernichtet ſich die Einheit der Unterſchiede dadurch, daß ſie in den Widerſpruch übergehen, ohne in die Einheit zurückzugehen, ſo entſteht diejenige Entzweiung, die wir vor¬ zugsweiſe und mit Recht als Disharmonie bezeichnen. Ein ſolcher Widerſpruch iſt häßlich, weil er die fundamentale Bedingung aller äſthetiſchen Geſtaltung, die Einheit, von Innen heraus zerſtört. Die Disharmonie iſt nun zwar an ſich ſelbſt häßlich, aber es muß ſogleich unterſchieden werden zwiſchen der Disharmonie, die, als eine noth¬ wendige, doch ſchön, und zwiſchen derjenigen, die, als eine zufällige, häßlich iſt. Die nothwendige Dishar¬ monie iſt der Conflict, in welchen die in einer Einheit liegenden ſo zu ſagen eſoteriſchen Unterſchiede durch ihre gerechtfertigte Colliſion gerathen können; die zufällige iſt der gleichſam exoteriſche Widerſpruch, der einer Einheit octroyirt wird. Der nothwendige macht uns in dem un¬ geheuren Riß, den er aufklaffen läßt, die ganze Tiefe der Einheit offenbar. Die Kraft der Harmonie erſcheint um ſo gewaltiger, je größer die Disharmonie iſt, über welche ſie triumphirt, aber nicht nur muß die Ent¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/126>, abgerufen am 27.11.2024.