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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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verschnitten sind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬
zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬
lischen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinaussehnen.

Wir befinden uns hier schon in lauter dialektischen Be¬
stimmungen. Ein einfaches Aussprechen und Setzen der
Bestimmungen genügt nicht; sie gehen in einander über. Als
Moment kann die Regularität berechtigt und schön sein; als
absolute Regel, in welche das ästhetische Object aufgeht, kann
sie häßlich werden. Man kann aber nicht schließen, daß das
Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt schön
sein müsse. Sie kann es sein, je nach den Verhältnissen;
am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird sie
eben sowohl häßlich werden. Ein schönes Beispiel reizender
Irregularität auf dem architektonischen Felde ist das Schloß
Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in
einer Art von Renaissancestyl aufgeführt (19). In Darstellung
derjenigen nachlässigen Irregularität, die wir Negligee par
excellence
zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen
oft noch reizender erscheinen, als ihre Herrinnen, sind Maler
und Dichter glücklich genug gewesen, als daß an Beispiele
zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen
in Deutschland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräischen
Poesie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Ossian
freie rhythmische Gesänge auf, die sich in irregulärer Wildheit
von der metrischen Geschlossenheit emancipirt hatten. Manches
darin war vortrefflich, wie in einigen Klopstockschen
Bardieten und einigen Götheschen Compositionen. Aber
wie jämmerlich fiel diese Irregularität auch bei einigen Andern
aus, die sich in hohlem Wortschwall nicht nur, die sich auch
in ganz unrhythmischen, unmusikalischen, durcheinander¬
stolpernden Tonmassen bewegten.

verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬
zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬
liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen.

Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬
ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der
Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als
Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als
abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann
ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das
Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön
ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen;
am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie
eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender
Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß
Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in
einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung
derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Negligée par
excellence
zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen
oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler
und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele
zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen
in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen
Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian
freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit
von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches
darin war vortrefflich, wie in einigen Klopſtockſchen
Bardieten und einigen Götheſchen Compoſitionen. Aber
wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern
aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch
in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬
ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.

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[82/0104] verſchnitten ſind, bald das Gefühl des Zwanges und der Abge¬ zirkeltheit, aus deren Oede wir uns in die Irregularität eines Eng¬ liſchen Gartens oder noch lieber des freien Waldes hinausſehnen. Wir befinden uns hier ſchon in lauter dialektiſchen Be¬ ſtimmungen. Ein einfaches Ausſprechen und Setzen der Beſtimmungen genügt nicht; ſie gehen in einander über. Als Moment kann die Regularität berechtigt und ſchön ſein; als abſolute Regel, in welche das äſthetiſche Object aufgeht, kann ſie häßlich werden. Man kann aber nicht ſchließen, daß das Gegentheil der Regularität, die Irregularität, überhaupt ſchön ſein müſſe. Sie kann es ſein, je nach den Verhältniſſen; am unrechten Ort oder in's Verworrene ausartend wird ſie eben ſowohl häßlich werden. Ein ſchönes Beiſpiel reizender Irregularität auf dem architektoniſchen Felde iſt das Schloß Meilhart im Cherdepartement, ohne alle Symmetrie in einer Art von Renaiſſanceſtyl aufgeführt (19). In Darſtellung derjenigen nachläſſigen Irregularität, die wir Negligée par excellence zu nennen pflegen und worin die Kammermädchen oft noch reizender erſcheinen, als ihre Herrinnen, ſind Maler und Dichter glücklich genug geweſen, als daß an Beiſpiele zu erinnern nöthig wäre. Im vorigen Jahrhundert kamen in Deutſchland, in vermeintlicher Nachahmung der Hebräiſchen Poeſie, der antiken Chöre, der Skaldenlieder und des Oſſian freie rhythmiſche Geſänge auf, die ſich in irregulärer Wildheit von der metriſchen Geſchloſſenheit emancipirt hatten. Manches darin war vortrefflich, wie in einigen Klopſtockſchen Bardieten und einigen Götheſchen Compoſitionen. Aber wie jämmerlich fiel dieſe Irregularität auch bei einigen Andern aus, die ſich in hohlem Wortſchwall nicht nur, die ſich auch in ganz unrhythmiſchen, unmuſikaliſchen, durcheinander¬ ſtolpernden Tonmaſſen bewegten.

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/104>, abgerufen am 24.11.2024.