erzählt, aber nie ein Wort von seiner Mutter, gleichwol er im Traume oft genug von ihr ge- sprochen hat. Ich habe es ihm angemerkt, wie sehr das Gewissen seiner That ihn hat gepeinigt.
Auf daß sich der Knabe an Geduld und Sanft- muth übe, habe ich ein Mittel erfunden, das, wie seltsam und einfältig es auch aussehen mag, doch eine schätzbare Wirkung in sich trägt. Ich fasse einen Rosenkranz aus grauen Steinperlen zusammen, und diesen Rosenkranz muß mir der Lazarus allabendlich abbeten, ehe er zu Bette geht. Aber nicht mit dem Munde abbeten, sondern mit den Fingern und mit den Augen. Er muß nämlich alle Perlen von der Schnur streifen, daß sie auf den Erdboden hin- kollern; und nun ist seine Aufgabe, daß er die in alle Winkel gerollten Kügelchen mühsam wieder zusammensuche und auflese. Anfangs hat er bei dieser mühsamen Arbeit sein Zucken wol bekommen; aber da er dadurch dem Geschäfte nur hinderlich statt förderlich ist, so hat er es nach und nach mit mehr und mehr Fassung verrichtet, trotzdem das Suchen oft stundenlang dauert, bis er die letzte und allerletzte Perle findet. Und endlich hat er es mit einer Ruhe und Selbstüberwindung gethan, die ver- ehrungswürdig ist. -- Kind, sage ich einmal, das ist das schönste Gebet, das du Gott und deiner Mutter zu Liebe thun kannst, und damit erlösest du
erzählt, aber nie ein Wort von ſeiner Mutter, gleichwol er im Traume oft genug von ihr ge- ſprochen hat. Ich habe es ihm angemerkt, wie ſehr das Gewiſſen ſeiner That ihn hat gepeinigt.
Auf daß ſich der Knabe an Geduld und Sanft- muth übe, habe ich ein Mittel erfunden, das, wie ſeltſam und einfältig es auch ausſehen mag, doch eine ſchätzbare Wirkung in ſich trägt. Ich faſſe einen Roſenkranz aus grauen Steinperlen zuſammen, und dieſen Roſenkranz muß mir der Lazarus allabendlich abbeten, ehe er zu Bette geht. Aber nicht mit dem Munde abbeten, ſondern mit den Fingern und mit den Augen. Er muß nämlich alle Perlen von der Schnur ſtreifen, daß ſie auf den Erdboden hin- kollern; und nun iſt ſeine Aufgabe, daß er die in alle Winkel gerollten Kügelchen mühſam wieder zuſammenſuche und aufleſe. Anfangs hat er bei dieſer mühſamen Arbeit ſein Zucken wol bekommen; aber da er dadurch dem Geſchäfte nur hinderlich ſtatt förderlich iſt, ſo hat er es nach und nach mit mehr und mehr Faſſung verrichtet, trotzdem das Suchen oft ſtundenlang dauert, bis er die letzte und allerletzte Perle findet. Und endlich hat er es mit einer Ruhe und Selbſtüberwindung gethan, die ver- ehrungswürdig iſt. — Kind, ſage ich einmal, das iſt das ſchönſte Gebet, das du Gott und deiner Mutter zu Liebe thun kannſt, und damit erlöſeſt du
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erzählt, aber nie ein Wort von ſeiner Mutter,
gleichwol er im Traume oft genug von ihr ge-
ſprochen hat. Ich habe es ihm angemerkt, wie ſehr
das Gewiſſen ſeiner That ihn hat gepeinigt.
Auf daß ſich der Knabe an Geduld und Sanft-
muth übe, habe ich ein Mittel erfunden, das, wie
ſeltſam und einfältig es auch ausſehen mag, doch
eine ſchätzbare Wirkung in ſich trägt. Ich faſſe einen
Roſenkranz aus grauen Steinperlen zuſammen, und
dieſen Roſenkranz muß mir der Lazarus allabendlich
abbeten, ehe er zu Bette geht. Aber nicht mit dem
Munde abbeten, ſondern mit den Fingern und mit
den Augen. Er muß nämlich alle Perlen von der
Schnur ſtreifen, daß ſie auf den Erdboden hin-
kollern; und nun iſt ſeine Aufgabe, daß er die in
alle Winkel gerollten Kügelchen mühſam wieder
zuſammenſuche und aufleſe. Anfangs hat er bei
dieſer mühſamen Arbeit ſein Zucken wol bekommen;
aber da er dadurch dem Geſchäfte nur hinderlich
ſtatt förderlich iſt, ſo hat er es nach und nach mit
mehr und mehr Faſſung verrichtet, trotzdem das
Suchen oft ſtundenlang dauert, bis er die letzte und
allerletzte Perle findet. Und endlich hat er es mit
einer Ruhe und Selbſtüberwindung gethan, die ver-
ehrungswürdig iſt. — Kind, ſage ich einmal, das
iſt das ſchönſte Gebet, das du Gott und deiner
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/307>, abgerufen am 24.11.2024.
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