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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

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Und wieder zum Knaben: "Zieh' die nassen Schuh'
aus, Bub!"

Er hat gar keine Schuhe an den Füßen;
Sohlen aus Baumrinden hat er angebunden.

Das Weib geht zum Bette, weckt das Mäd-
chen, es möge schnell aufstehen, es sei der Lazarus
gekommen. Das Mädchen hebt an zu weinen.

Die Suppe steht fertig auf dem Tisch; der
Knabe starrt mit seinen großen Augen den Tisch
und die Mutter an. Und jetzt erst bricht das Mutter-
herz los: "Mein Kind, du kennst mich nimmer!
Ja, ich bin alt geworden über die hundert Jahr!
wo bist mir gewesen diese ewige Zeit! Jesus
Maria!" Sie reißt das Kind an ihre Brust.

Lazarus starrt zur Erde; ich merke wol, wie
seine Lippen zucken, aber er bricht nicht in Weinen
aus und er sagt kein Wort. Er muß Bedeutsames
erfahren haben; seine Seele liegt unter einem Banne.

Als er hierauf seinen Lodenüberwurf austhut,
um auf das frischbereitete Lager zu steigen, langt
er aus diesem Ueberwurf eine Handvoll grauer
Körner und streut sie mit einem Schlag über den
Fußboden hin. Kaum das geschehen, hebt er an,
sich zu bücken und die Körner, Steinkügelchen sind
es, wieder aufzulösen. Er zählt sie in seiner Hand
und sucht dann in allen Fugen und Winkeln, und
hebt mit Sorgfalt jedes der Körnchen, und zählt

Und wieder zum Knaben: „Zieh’ die naſſen Schuh’
aus, Bub!“

Er hat gar keine Schuhe an den Füßen;
Sohlen aus Baumrinden hat er angebunden.

Das Weib geht zum Bette, weckt das Mäd-
chen, es möge ſchnell aufſtehen, es ſei der Lazarus
gekommen. Das Mädchen hebt an zu weinen.

Die Suppe ſteht fertig auf dem Tiſch; der
Knabe ſtarrt mit ſeinen großen Augen den Tiſch
und die Mutter an. Und jetzt erſt bricht das Mutter-
herz los: „Mein Kind, du kennſt mich nimmer!
Ja, ich bin alt geworden über die hundert Jahr!
wo biſt mir geweſen dieſe ewige Zeit! Jeſus
Maria!“ Sie reißt das Kind an ihre Bruſt.

Lazarus ſtarrt zur Erde; ich merke wol, wie
ſeine Lippen zucken, aber er bricht nicht in Weinen
aus und er ſagt kein Wort. Er muß Bedeutſames
erfahren haben; ſeine Seele liegt unter einem Banne.

Als er hierauf ſeinen Lodenüberwurf austhut,
um auf das friſchbereitete Lager zu ſteigen, langt
er aus dieſem Ueberwurf eine Handvoll grauer
Körner und ſtreut ſie mit einem Schlag über den
Fußboden hin. Kaum das geſchehen, hebt er an,
ſich zu bücken und die Körner, Steinkügelchen ſind
es, wieder aufzulöſen. Er zählt ſie in ſeiner Hand
und ſucht dann in allen Fugen und Winkeln, und
hebt mit Sorgfalt jedes der Körnchen, und zählt

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[254/0264] Und wieder zum Knaben: „Zieh’ die naſſen Schuh’ aus, Bub!“ Er hat gar keine Schuhe an den Füßen; Sohlen aus Baumrinden hat er angebunden. Das Weib geht zum Bette, weckt das Mäd- chen, es möge ſchnell aufſtehen, es ſei der Lazarus gekommen. Das Mädchen hebt an zu weinen. Die Suppe ſteht fertig auf dem Tiſch; der Knabe ſtarrt mit ſeinen großen Augen den Tiſch und die Mutter an. Und jetzt erſt bricht das Mutter- herz los: „Mein Kind, du kennſt mich nimmer! Ja, ich bin alt geworden über die hundert Jahr! wo biſt mir geweſen dieſe ewige Zeit! Jeſus Maria!“ Sie reißt das Kind an ihre Bruſt. Lazarus ſtarrt zur Erde; ich merke wol, wie ſeine Lippen zucken, aber er bricht nicht in Weinen aus und er ſagt kein Wort. Er muß Bedeutſames erfahren haben; ſeine Seele liegt unter einem Banne. Als er hierauf ſeinen Lodenüberwurf austhut, um auf das friſchbereitete Lager zu ſteigen, langt er aus dieſem Ueberwurf eine Handvoll grauer Körner und ſtreut ſie mit einem Schlag über den Fußboden hin. Kaum das geſchehen, hebt er an, ſich zu bücken und die Körner, Steinkügelchen ſind es, wieder aufzulöſen. Er zählt ſie in ſeiner Hand und ſucht dann in allen Fugen und Winkeln, und hebt mit Sorgfalt jedes der Körnchen, und zählt

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Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/264>, abgerufen am 25.11.2024.