dem Walde naht der Morgen wieder, schon winken ihm die Zweige.
Es naht der junge König auf Wolkenrossen vom Aufgang her geritten und bohrt seine glut- lodernden Lanzen in das Herz der Nacht, und diese stürzt nieder in dämmernde Schluchten, und von felsiger Zinne rieselt das Blut.
Alpenglühen nennen es die Leute.
Zu dieser Jahreszeit wäre es auf dem grauen Zahn gut sein. Während unten in finsteren Thälern die Menschen ausruhen von Mühsal, und träumen von Mühsal, und sich stärken zu neuer Mühsal -- stehen da oben die ewigen Tafeln in stiller Glut, und um Mitternacht reicht über dem Zahn ein Tag dem andern die Hände.
"O, das ist ein schönes Licht!" hat der alte Rüppel einmal ausgerufen, "das leuchtet hinaus in die weite Fern, das leuchtet mir hinein in mein tiefes Herz, das leuchtet mir hinauf zu Gott dem Herrn!"
In meiner Seele ist zuweilen eine so seltsame Empfindung; Sehnsucht nach dem Weiten, nach dem Unbegrenzten ist nicht ganz der rechte Name dafür; Durst nach dem Lichte möchte ich sie heißen. -- Mein armes Auge, du vermagst der dürstenden Seele nicht genug zu thun; du wirst in dem Meere des Lichtes noch ertrinken.
dem Walde naht der Morgen wieder, ſchon winken ihm die Zweige.
Es naht der junge König auf Wolkenroſſen vom Aufgang her geritten und bohrt ſeine glut- lodernden Lanzen in das Herz der Nacht, und dieſe ſtürzt nieder in dämmernde Schluchten, und von felſiger Zinne rieſelt das Blut.
Alpenglühen nennen es die Leute.
Zu dieſer Jahreszeit wäre es auf dem grauen Zahn gut ſein. Während unten in finſteren Thälern die Menſchen ausruhen von Mühſal, und träumen von Mühſal, und ſich ſtärken zu neuer Mühſal — ſtehen da oben die ewigen Tafeln in ſtiller Glut, und um Mitternacht reicht über dem Zahn ein Tag dem andern die Hände.
„O, das iſt ein ſchönes Licht!“ hat der alte Rüppel einmal ausgerufen, „das leuchtet hinaus in die weite Fern, das leuchtet mir hinein in mein tiefes Herz, das leuchtet mir hinauf zu Gott dem Herrn!“
In meiner Seele iſt zuweilen eine ſo ſeltſame Empfindung; Sehnſucht nach dem Weiten, nach dem Unbegrenzten iſt nicht ganz der rechte Name dafür; Durſt nach dem Lichte möchte ich ſie heißen. — Mein armes Auge, du vermagſt der dürſtenden Seele nicht genug zu thun; du wirſt in dem Meere des Lichtes noch ertrinken.
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dem Walde naht der Morgen wieder, ſchon winken
ihm die Zweige.
Es naht der junge König auf Wolkenroſſen
vom Aufgang her geritten und bohrt ſeine glut-
lodernden Lanzen in das Herz der Nacht, und dieſe
ſtürzt nieder in dämmernde Schluchten, und von
felſiger Zinne rieſelt das Blut.
Alpenglühen nennen es die Leute.
Zu dieſer Jahreszeit wäre es auf dem grauen
Zahn gut ſein. Während unten in finſteren Thälern
die Menſchen ausruhen von Mühſal, und träumen
von Mühſal, und ſich ſtärken zu neuer Mühſal —
ſtehen da oben die ewigen Tafeln in ſtiller Glut,
und um Mitternacht reicht über dem Zahn ein Tag
dem andern die Hände.
„O, das iſt ein ſchönes Licht!“ hat der alte
Rüppel einmal ausgerufen, „das leuchtet hinaus in
die weite Fern, das leuchtet mir hinein in mein
tiefes Herz, das leuchtet mir hinauf zu Gott dem
Herrn!“
In meiner Seele iſt zuweilen eine ſo ſeltſame
Empfindung; Sehnſucht nach dem Weiten, nach
dem Unbegrenzten iſt nicht ganz der rechte Name
dafür; Durſt nach dem Lichte möchte ich ſie heißen.
— Mein armes Auge, du vermagſt der dürſtenden
Seele nicht genug zu thun; du wirſt in dem Meere
des Lichtes noch ertrinken.
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/232>, abgerufen am 24.11.2024.
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