armen Genziane Tauf- und Familienschein. O, wenn so eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern gezeichnete Naturbeschreibung selbst lösen könnte, sie müßte auf der Stelle erfrieren. Das ist ja frostiger, wie der Reif des Herbstes.
Das wissen die Waldleute besser. Die Blume lebt und liebt und redet eine wunderbare Sprache. -- Aber ahnungsvoll zittert die Genziane, naht ihr ein Mensch; und mehr bangt sie vor dessen leidenschaftglühendem Hauch, als vor dem todes- kalten Kusse des ersten Schnee's.
So bin ich der Nichtverstehende und Unver- standene. Sinnlos und planlos wirble ich in dem ungeheueren lebendigen Rade der Schöpfung.
Verstünde ich mich nur erst selbst. Kaum nach dem Fieber der Welt zu Ruhe gekommen und mich des Waldfriedens freuend, drängt es schon wieder, einen Blick in die Ferne zu thun, soweit des Menschen Auge kann reichen. -- Dort auf der blauen Waldesschneide möcht' ich stehen, und weit hinaus in's Land zu anderen Menschen sehen. Sie sind nicht besser, wie die Wäldler und wissen auch kaum mehr; jedoch sie streben und ahnen und suchen dich, o Herr! . . . .
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armen Genziane Tauf- und Familienſchein. O, wenn ſo eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern gezeichnete Naturbeſchreibung ſelbſt löſen könnte, ſie müßte auf der Stelle erfrieren. Das iſt ja froſtiger, wie der Reif des Herbſtes.
Das wiſſen die Waldleute beſſer. Die Blume lebt und liebt und redet eine wunderbare Sprache. — Aber ahnungsvoll zittert die Genziane, naht ihr ein Menſch; und mehr bangt ſie vor deſſen leidenſchaftglühendem Hauch, als vor dem todes- kalten Kuſſe des erſten Schnee’s.
So bin ich der Nichtverſtehende und Unver- ſtandene. Sinnlos und planlos wirble ich in dem ungeheueren lebendigen Rade der Schöpfung.
Verſtünde ich mich nur erſt ſelbſt. Kaum nach dem Fieber der Welt zu Ruhe gekommen und mich des Waldfriedens freuend, drängt es ſchon wieder, einen Blick in die Ferne zu thun, ſoweit des Menſchen Auge kann reichen. — Dort auf der blauen Waldesſchneide möcht’ ich ſtehen, und weit hinaus in’s Land zu anderen Menſchen ſehen. Sie ſind nicht beſſer, wie die Wäldler und wiſſen auch kaum mehr; jedoch ſie ſtreben und ahnen und ſuchen dich, o Herr! . . . .
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armen Genziane Tauf- und Familienſchein. O,
wenn ſo eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern
gezeichnete Naturbeſchreibung ſelbſt löſen könnte, ſie
müßte auf der Stelle erfrieren. Das iſt ja froſtiger,
wie der Reif des Herbſtes.
Das wiſſen die Waldleute beſſer. Die Blume
lebt und liebt und redet eine wunderbare Sprache.
— Aber ahnungsvoll zittert die Genziane, naht
ihr ein Menſch; und mehr bangt ſie vor deſſen
leidenſchaftglühendem Hauch, als vor dem todes-
kalten Kuſſe des erſten Schnee’s.
So bin ich der Nichtverſtehende und Unver-
ſtandene. Sinnlos und planlos wirble ich in dem
ungeheueren lebendigen Rade der Schöpfung.
Verſtünde ich mich nur erſt ſelbſt. Kaum nach
dem Fieber der Welt zu Ruhe gekommen und
mich des Waldfriedens freuend, drängt es ſchon
wieder, einen Blick in die Ferne zu thun, ſoweit
des Menſchen Auge kann reichen. — Dort auf der
blauen Waldesſchneide möcht’ ich ſtehen, und weit
hinaus in’s Land zu anderen Menſchen ſehen. Sie
ſind nicht beſſer, wie die Wäldler und wiſſen auch
kaum mehr; jedoch ſie ſtreben und ahnen und
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/157>, abgerufen am 21.11.2024.
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