Mißgunst. Solte das bekandte Lateinische Sprich- wort: Exeat aula qui vult esse pius, allenthalben seine Wahrheit und Richtigkeit haben, so würde man keinen eintzigen gottesfürchtigen Menschen an einem Hofe antreffen. Jch halte aber dasjenige, was der alte und wohlerfahrne Hof-Mann Gue- varra, in seiner Beschreibung des Hof-Lebens, von dieser Materie anführt, vor wohlgegründet, wenn er p. 20. schreibt: Was soll ich viel sagen wir se- hen, daß so wohl bey Hofe, als in den Städten, so wohl auf dem Lande, als in der Wüsten, die From- men fromm, und die Bösen böse sind. Die Bösen und Gottlosen suchen allenthalben Ort und Stelle, gottloß zu seyn; die Frommen und Tugendsamen aber finden allenthalben Zeit und Gelegenheit, fromm zu seyn. Es ist kein Stand in der Christli- chen Kirche, worinnen man nicht könne selig sterben, und ist auch kein Stand so strenge und eingezogen, worinnen sich nicht Gelegenheit ereignet, verdammt zu werden. P. 104. läst er sich folgender Gestalt vernehmen: Es ist nicht zu läugnen, daß viel Leute an Fürstlichen Höfen können selig werden; so geb ich auch zu, daß viele ausserhalb des Hofes ver- dammt werden. Doch bin ich gleichwohl der be- ständigen Meynung, weil bey Hofe die Gelegenheit zu sündigen sich in so grossem Uberfluß ereignet, daß die Frommen daselbst gar dünne gesäet seyn müs- sen.
§. 2. Die hohen Beyspiele der Herrschafften und Vorgesetzten sind zwar die kräfftigsten Bewe-
gungs-
I. Theil. VIII. Capitul.
Mißgunſt. Solte das bekandte Lateiniſche Sprich- wort: Exeat aulâ qui vult eſſe pius, allenthalben ſeine Wahrheit und Richtigkeit haben, ſo wuͤrde man keinen eintzigen gottesfuͤrchtigen Menſchen an einem Hofe antreffen. Jch halte aber dasjenige, was der alte und wohlerfahrne Hof-Mann Gue- varra, in ſeiner Beſchreibung des Hof-Lebens, von dieſer Materie anfuͤhrt, vor wohlgegruͤndet, wenn er p. 20. ſchreibt: Was ſoll ich viel ſagen wir ſe- hen, daß ſo wohl bey Hofe, als in den Staͤdten, ſo wohl auf dem Lande, als in der Wuͤſten, die From- men fromm, und die Boͤſen boͤſe ſind. Die Boͤſen und Gottloſen ſuchen allenthalben Ort und Stelle, gottloß zu ſeyn; die Frommen und Tugendſamen aber finden allenthalben Zeit und Gelegenheit, fromm zu ſeyn. Es iſt kein Stand in der Chriſtli- chen Kirche, worinnen man nicht koͤnne ſelig ſterben, und iſt auch kein Stand ſo ſtrenge und eingezogen, worinnen ſich nicht Gelegenheit ereignet, verdammt zu werden. P. 104. laͤſt er ſich folgender Geſtalt vernehmen: Es iſt nicht zu laͤugnen, daß viel Leute an Fuͤrſtlichen Hoͤfen koͤnnen ſelig werden; ſo geb ich auch zu, daß viele auſſerhalb des Hofes ver- dammt werden. Doch bin ich gleichwohl der be- ſtaͤndigen Meynung, weil bey Hofe die Gelegenheit zu ſuͤndigen ſich in ſo groſſem Uberfluß ereignet, daß die Frommen daſelbſt gar duͤnne geſaͤet ſeyn muͤſ- ſen.
§. 2. Die hohen Beyſpiele der Herrſchafften und Vorgeſetzten ſind zwar die kraͤfftigſten Bewe-
gungs-
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I. Theil. VIII. Capitul.
Mißgunſt. Solte das bekandte Lateiniſche Sprich-
wort: Exeat aulâ qui vult eſſe pius, allenthalben
ſeine Wahrheit und Richtigkeit haben, ſo wuͤrde
man keinen eintzigen gottesfuͤrchtigen Menſchen an
einem Hofe antreffen. Jch halte aber dasjenige,
was der alte und wohlerfahrne Hof-Mann Gue-
varra, in ſeiner Beſchreibung des Hof-Lebens, von
dieſer Materie anfuͤhrt, vor wohlgegruͤndet, wenn
er p. 20. ſchreibt: Was ſoll ich viel ſagen wir ſe-
hen, daß ſo wohl bey Hofe, als in den Staͤdten, ſo
wohl auf dem Lande, als in der Wuͤſten, die From-
men fromm, und die Boͤſen boͤſe ſind. Die Boͤſen
und Gottloſen ſuchen allenthalben Ort und Stelle,
gottloß zu ſeyn; die Frommen und Tugendſamen
aber finden allenthalben Zeit und Gelegenheit,
fromm zu ſeyn. Es iſt kein Stand in der Chriſtli-
chen Kirche, worinnen man nicht koͤnne ſelig ſterben,
und iſt auch kein Stand ſo ſtrenge und eingezogen,
worinnen ſich nicht Gelegenheit ereignet, verdammt
zu werden. P. 104. laͤſt er ſich folgender Geſtalt
vernehmen: Es iſt nicht zu laͤugnen, daß viel Leute
an Fuͤrſtlichen Hoͤfen koͤnnen ſelig werden; ſo geb
ich auch zu, daß viele auſſerhalb des Hofes ver-
dammt werden. Doch bin ich gleichwohl der be-
ſtaͤndigen Meynung, weil bey Hofe die Gelegenheit
zu ſuͤndigen ſich in ſo groſſem Uberfluß ereignet, daß
die Frommen daſelbſt gar duͤnne geſaͤet ſeyn muͤſ-
ſen.
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Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/242>, abgerufen am 16.02.2025.
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