Vorgesetzten zu beobachten pflegen, ein größer An- sehen zuwege bringen. Nun beruhet es zwar nicht in der Macht eines Menschen, sein Gesicht zu än- dern, sondern er muß die Augen, den Mund, die Nase und die gantze Stellung seines Gesichtes be- halten, wie sie ihm GOtt geschaffen, es mag andern Leuten gefallen oder nicht; jedoch kan man durch die Bemühung eine und die andere Geberde än- dern, und durch öfftere Wiederhohlung eine die uns erstlich fremde und schwehr war, so ange- wöhnen, daß sie uns mit der Zeit eigenthümlich wird.
§. 15. Diejenigen Geberden, welche die Fran- tzosen l'air zu nennen pflegen, und die nach Veran- lassung des äusserlichen oder innerlichen, so in unse- rer Seele vorgegangen, auf eine Zeitlang in unsern Gesicht erwecket werden, stehen eher in unserer Ge- walt, als die vorhergehenden, die zu der gantzen Physiognomie gehören. Diese muß man nach den Umständen der Zeit, des Ortes, und der Perso- nen, bey denen man sich aufhält, weißlich zu lencken und zu verändern wissen. Jst man in der Kirche, oder bey einer heiligen Handlung, so muß man ehr- erbietige Geberden machen, und handeln daher manche von unsern jungen Leuten beyderley Ge- schlechts, die sich an solchen Oertern so frech und wilde aufführen, als sie nimmermehr bey einer Dantz-Versammlung thun könten, gar sehr wider den Wohlstand. Befindet man sich in einem Trauer- Hause, und stattet eine Trauer-Visite ab, so muß
man
I. Theil. VI. Capitul.
Vorgeſetzten zu beobachten pflegen, ein groͤßer An- ſehen zuwege bringen. Nun beruhet es zwar nicht in der Macht eines Menſchen, ſein Geſicht zu aͤn- dern, ſondern er muß die Augen, den Mund, die Naſe und die gantze Stellung ſeines Geſichtes be- halten, wie ſie ihm GOtt geſchaffen, es mag andern Leuten gefallen oder nicht; jedoch kan man durch die Bemuͤhung eine und die andere Geberde aͤn- dern, und durch oͤfftere Wiederhohlung eine die uns erſtlich fremde und ſchwehr war, ſo ange- woͤhnen, daß ſie uns mit der Zeit eigenthuͤmlich wird.
§. 15. Diejenigen Geberden, welche die Fran- tzoſen l’air zu nennen pflegen, und die nach Veran- laſſung des aͤuſſerlichen oder innerlichen, ſo in unſe- rer Seele vorgegangen, auf eine Zeitlang in unſern Geſicht erwecket werden, ſtehen eher in unſerer Ge- walt, als die vorhergehenden, die zu der gantzen Phyſiognomie gehoͤren. Dieſe muß man nach den Umſtaͤnden der Zeit, des Ortes, und der Perſo- nen, bey denen man ſich aufhaͤlt, weißlich zu lencken und zu veraͤndern wiſſen. Jſt man in der Kirche, oder bey einer heiligen Handlung, ſo muß man ehr- erbietige Geberden machen, und handeln daher manche von unſern jungen Leuten beyderley Ge- ſchlechts, die ſich an ſolchen Oertern ſo frech und wilde auffuͤhren, als ſie nimmermehr bey einer Dantz-Verſam̃lung thun koͤnten, gar ſehr wider den Wohlſtand. Befindet man ſich in einem Trauer- Hauſe, und ſtattet eine Trauer-Viſite ab, ſo muß
man
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0210"n="190"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">I.</hi> Theil. <hirendition="#aq">VI.</hi> Capitul.</hi></fw><lb/>
Vorgeſetzten zu beobachten pflegen, ein groͤßer An-<lb/>ſehen zuwege bringen. Nun beruhet es zwar nicht<lb/>
in der Macht eines Menſchen, ſein Geſicht zu aͤn-<lb/>
dern, ſondern er muß die Augen, den Mund, die<lb/>
Naſe und die gantze Stellung ſeines Geſichtes be-<lb/>
halten, wie ſie ihm GOtt geſchaffen, es mag andern<lb/>
Leuten gefallen oder nicht; jedoch kan man durch<lb/>
die Bemuͤhung eine und die andere Geberde aͤn-<lb/>
dern, und durch oͤfftere Wiederhohlung eine die<lb/>
uns erſtlich fremde und ſchwehr war, ſo ange-<lb/>
woͤhnen, daß ſie uns mit der Zeit eigenthuͤmlich<lb/>
wird.</p><lb/><p>§. 15. Diejenigen Geberden, welche die Fran-<lb/>
tzoſen <hirendition="#aq">l’air</hi> zu nennen pflegen, und die nach Veran-<lb/>
laſſung des aͤuſſerlichen oder innerlichen, ſo in unſe-<lb/>
rer Seele vorgegangen, auf eine Zeitlang in unſern<lb/>
Geſicht erwecket werden, ſtehen eher in unſerer Ge-<lb/>
walt, als die vorhergehenden, die zu der gantzen<lb/><hirendition="#aq">Phyſiognomie</hi> gehoͤren. Dieſe muß man nach<lb/>
den Umſtaͤnden der Zeit, des Ortes, und der Perſo-<lb/>
nen, bey denen man ſich aufhaͤlt, weißlich zu lencken<lb/>
und zu veraͤndern wiſſen. Jſt man in der Kirche,<lb/>
oder bey einer heiligen Handlung, ſo muß man ehr-<lb/>
erbietige Geberden machen, und handeln daher<lb/>
manche von unſern jungen Leuten beyderley Ge-<lb/>ſchlechts, die ſich an ſolchen Oertern ſo frech und<lb/>
wilde auffuͤhren, als ſie nimmermehr bey einer<lb/>
Dantz-Verſam̃lung thun koͤnten, gar ſehr wider den<lb/>
Wohlſtand. Befindet man ſich in einem Trauer-<lb/>
Hauſe, und ſtattet eine Trauer-<hirendition="#aq">Viſite</hi> ab, ſo muß<lb/><fwplace="bottom"type="catch">man</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[190/0210]
I. Theil. VI. Capitul.
Vorgeſetzten zu beobachten pflegen, ein groͤßer An-
ſehen zuwege bringen. Nun beruhet es zwar nicht
in der Macht eines Menſchen, ſein Geſicht zu aͤn-
dern, ſondern er muß die Augen, den Mund, die
Naſe und die gantze Stellung ſeines Geſichtes be-
halten, wie ſie ihm GOtt geſchaffen, es mag andern
Leuten gefallen oder nicht; jedoch kan man durch
die Bemuͤhung eine und die andere Geberde aͤn-
dern, und durch oͤfftere Wiederhohlung eine die
uns erſtlich fremde und ſchwehr war, ſo ange-
woͤhnen, daß ſie uns mit der Zeit eigenthuͤmlich
wird.
§. 15. Diejenigen Geberden, welche die Fran-
tzoſen l’air zu nennen pflegen, und die nach Veran-
laſſung des aͤuſſerlichen oder innerlichen, ſo in unſe-
rer Seele vorgegangen, auf eine Zeitlang in unſern
Geſicht erwecket werden, ſtehen eher in unſerer Ge-
walt, als die vorhergehenden, die zu der gantzen
Phyſiognomie gehoͤren. Dieſe muß man nach
den Umſtaͤnden der Zeit, des Ortes, und der Perſo-
nen, bey denen man ſich aufhaͤlt, weißlich zu lencken
und zu veraͤndern wiſſen. Jſt man in der Kirche,
oder bey einer heiligen Handlung, ſo muß man ehr-
erbietige Geberden machen, und handeln daher
manche von unſern jungen Leuten beyderley Ge-
ſchlechts, die ſich an ſolchen Oertern ſo frech und
wilde auffuͤhren, als ſie nimmermehr bey einer
Dantz-Verſam̃lung thun koͤnten, gar ſehr wider den
Wohlſtand. Befindet man ſich in einem Trauer-
Hauſe, und ſtattet eine Trauer-Viſite ab, ſo muß
man
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohr, Julius Bernhard von: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen. Berlin, 1728, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohr_einleitung_1728/210>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.