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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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überhaupt besonders kühn in freier Weiterbildung der Sage,
eine bedeutende Neuerung. Aus dem Scheiterhaufen, erzählte
er, entrafft Thetis den Leichnam des Sohnes und bringt ihn
nach Leuke 1). Dass sie ihn dort neu belebt und unsterblich
gemacht habe, sagt der uns zufällig erhaltene dürre Auszug
nicht; ohne Frage aber erzählte so der Dichter; alle späteren
Berichte setzen das hinzu.

In deutlich erkennbarer Parallele sind die beiden Gegner,
Memnon und Achill, durch ihre göttlichen Mütter dem Loose
der Sterblichkeit enthoben; im wiederbeseelten Leibe leben sie
weiter, nicht unter den Menschen, auch nicht im Reiche der
Götter, sondern in einem fernen Wunderlande, Memnon im
Osten, Achill auf der "weissen Insel", die der Dichter sich
schwerlich schon im Pontos Euxeinos liegend dachte, wo frei-
lich später griechische Schiffer das eigentlich rein sagenhafte
Local auffanden.

Der Entrückung des Menelaos tritt noch näher, was die
Telegonie, das letzte und auch wohl jüngste der Gedichte des
epischen Cyklus, von den Geschicken der Familie des Odysseus
berichtete. Nachdem Telegonos, der Sohn des Odysseus und
der Kirke, seinen Vater, ohne ihn zu kennen, erschlagen hat,

1) ek tes puras e Thetis anarpasasa ton paida eis ten Leuken neson
diakomizei. Proclus (p. 34 K.) -- Dann übrigens weiter: oi de Akhaioi
ton taphon khosantes agona titheasin. Also ein Grabhügel wird errichtet,
obwohl der Leib des Achill entrückt ist. Offenbar eine Concession an
die ältere, von der Entrückung noch nichts wissende, aber den Grabhügel
stark hervorhebende Erzählung, Od. 24, 80--84. Dazu mochte der in
Troas, am Meeresufer gezeigte Tumulus des Achill seine Erklärung for-
dern; der Dichter lässt also ein Kenotaph errichtet werden -- und nun
trifft es sich wunderlich (aber doch wohl nur zufällig), dass jener Tumu-
lus, wie auch die nach Patroklos und Antilochos benannten Hügel wirk-
lich leer sind, vielleicht alte, mit den berühmten Namen der homerischen
Gedichte früh in Verbindung gebrachte Kenotaphe (vgl. Schliemann,
Troja [1884] p. 277. 297. 284). Kenotaphe nicht nur solchen zu er-
richten, deren Leichname unerreichbar waren (s. oben S. 61), sondern auch
Heroen, deren Leib entrückt war, galt nicht als widersinnig: so wird dem
Herakles, als er im Blitztode aufwärts entrafft ist, wiewohl man keinen
Knochen auf der pura fand, ein khoma errichtet: Diodor. 4, 38, 5; 39, 1.
Rohde, Seelencult. 6

überhaupt besonders kühn in freier Weiterbildung der Sage,
eine bedeutende Neuerung. Aus dem Scheiterhaufen, erzählte
er, entrafft Thetis den Leichnam des Sohnes und bringt ihn
nach Leuke 1). Dass sie ihn dort neu belebt und unsterblich
gemacht habe, sagt der uns zufällig erhaltene dürre Auszug
nicht; ohne Frage aber erzählte so der Dichter; alle späteren
Berichte setzen das hinzu.

In deutlich erkennbarer Parallele sind die beiden Gegner,
Memnon und Achill, durch ihre göttlichen Mütter dem Loose
der Sterblichkeit enthoben; im wiederbeseelten Leibe leben sie
weiter, nicht unter den Menschen, auch nicht im Reiche der
Götter, sondern in einem fernen Wunderlande, Memnon im
Osten, Achill auf der „weissen Insel“, die der Dichter sich
schwerlich schon im Pontos Euxeinos liegend dachte, wo frei-
lich später griechische Schiffer das eigentlich rein sagenhafte
Local auffanden.

Der Entrückung des Menelaos tritt noch näher, was die
Telegonie, das letzte und auch wohl jüngste der Gedichte des
epischen Cyklus, von den Geschicken der Familie des Odysseus
berichtete. Nachdem Telegonos, der Sohn des Odysseus und
der Kirke, seinen Vater, ohne ihn zu kennen, erschlagen hat,

1) ἐκ τῆς πυρᾶς ἡ Θέτις ἀναρπάσασα τὸν παῖδα εἰς τὴν Λευκὴν νῆσον
διακομίζει. Proclus (p. 34 K.) — Dann übrigens weiter: οἱ δὲ Ἀχαιοὶ
τὸν τάφον χώσαντες ἀγῶνα τιϑέασιν. Also ein Grabhügel wird errichtet,
obwohl der Leib des Achill entrückt ist. Offenbar eine Concession an
die ältere, von der Entrückung noch nichts wissende, aber den Grabhügel
stark hervorhebende Erzählung, Od. 24, 80—84. Dazu mochte der in
Troas, am Meeresufer gezeigte Tumulus des Achill seine Erklärung for-
dern; der Dichter lässt also ein Kenotaph errichtet werden — und nun
trifft es sich wunderlich (aber doch wohl nur zufällig), dass jener Tumu-
lus, wie auch die nach Patroklos und Antilochos benannten Hügel wirk-
lich leer sind, vielleicht alte, mit den berühmten Namen der homerischen
Gedichte früh in Verbindung gebrachte Kenotaphe (vgl. Schliemann,
Troja [1884] p. 277. 297. 284). Kenotaphe nicht nur solchen zu er-
richten, deren Leichname unerreichbar waren (s. oben S. 61), sondern auch
Heroen, deren Leib entrückt war, galt nicht als widersinnig: so wird dem
Herakles, als er im Blitztode aufwärts entrafft ist, wiewohl man keinen
Knochen auf der πυρά fand, ein χῶμα errichtet: Diodor. 4, 38, 5; 39, 1.
Rohde, Seelencult. 6
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[81/0097] überhaupt besonders kühn in freier Weiterbildung der Sage, eine bedeutende Neuerung. Aus dem Scheiterhaufen, erzählte er, entrafft Thetis den Leichnam des Sohnes und bringt ihn nach Leuke 1). Dass sie ihn dort neu belebt und unsterblich gemacht habe, sagt der uns zufällig erhaltene dürre Auszug nicht; ohne Frage aber erzählte so der Dichter; alle späteren Berichte setzen das hinzu. In deutlich erkennbarer Parallele sind die beiden Gegner, Memnon und Achill, durch ihre göttlichen Mütter dem Loose der Sterblichkeit enthoben; im wiederbeseelten Leibe leben sie weiter, nicht unter den Menschen, auch nicht im Reiche der Götter, sondern in einem fernen Wunderlande, Memnon im Osten, Achill auf der „weissen Insel“, die der Dichter sich schwerlich schon im Pontos Euxeinos liegend dachte, wo frei- lich später griechische Schiffer das eigentlich rein sagenhafte Local auffanden. Der Entrückung des Menelaos tritt noch näher, was die Telegonie, das letzte und auch wohl jüngste der Gedichte des epischen Cyklus, von den Geschicken der Familie des Odysseus berichtete. Nachdem Telegonos, der Sohn des Odysseus und der Kirke, seinen Vater, ohne ihn zu kennen, erschlagen hat, 1) ἐκ τῆς πυρᾶς ἡ Θέτις ἀναρπάσασα τὸν παῖδα εἰς τὴν Λευκὴν νῆσον διακομίζει. Proclus (p. 34 K.) — Dann übrigens weiter: οἱ δὲ Ἀχαιοὶ τὸν τάφον χώσαντες ἀγῶνα τιϑέασιν. Also ein Grabhügel wird errichtet, obwohl der Leib des Achill entrückt ist. Offenbar eine Concession an die ältere, von der Entrückung noch nichts wissende, aber den Grabhügel stark hervorhebende Erzählung, Od. 24, 80—84. Dazu mochte der in Troas, am Meeresufer gezeigte Tumulus des Achill seine Erklärung for- dern; der Dichter lässt also ein Kenotaph errichtet werden — und nun trifft es sich wunderlich (aber doch wohl nur zufällig), dass jener Tumu- lus, wie auch die nach Patroklos und Antilochos benannten Hügel wirk- lich leer sind, vielleicht alte, mit den berühmten Namen der homerischen Gedichte früh in Verbindung gebrachte Kenotaphe (vgl. Schliemann, Troja [1884] p. 277. 297. 284). Kenotaphe nicht nur solchen zu er- richten, deren Leichname unerreichbar waren (s. oben S. 61), sondern auch Heroen, deren Leib entrückt war, galt nicht als widersinnig: so wird dem Herakles, als er im Blitztode aufwärts entrafft ist, wiewohl man keinen Knochen auf der πυρά fand, ein χῶμα errichtet: Diodor. 4, 38, 5; 39, 1. Rohde, Seelencult. 6

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/97>, abgerufen am 23.11.2024.