Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

da herrschenden Neigung nachgebend, an Entlehnung dieser
ältesten griechischen Entrückungssagen aus semitischer Ueber-
lieferung glauben wollen. Gewonnen wäre mit einer solchen
mechanischen Herleitung wenig; es bliebe hier, wie in allen
ähnlichen Fällen, die Hauptsache, der Grund, aus welchem der
griechische Genius die bestimmte Vorstellung zu einer bestimmten
Zeit den Fremden entlehnen mochte, unaufgeklärt. Es spricht
aber auch im vorliegenden Falle nichts dafür, dass der Ent-
rückungsglaube von einem Volke dem anderen überliefert und
nicht vielmehr bei den verschiedenen Völkern aus gleichem Be-
dürfniss frei und selbständig entstanden sei. Die Grundvoraus-
setzungen, auf denen diese, den homerischen Seelenglauben
nicht aufhebende, sondern vielmehr voraussetzende und sanft
ergänzende neue Vorstellung sich aufbaut, waren, wie wir ge-
sehen haben, in einheimisch griechischem Glauben gegeben. Es
bedurfte durchaus keiner Anregung aus der Fremde, damit
aus diesen Elementen sich die allerdings neue und eigenthüm-
lich anziehende Vorstellung bilde, von der die Weissagung des
Proteus uns die erste Kunde bringt.

3.

Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwick-
lung griechischen Glaubens geworden ist, desto nothwendiger
ist es, sich klar zu machen, was eigentlich hier neu geschaffen
ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine Art
griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine
Ausgleichung von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht

theos 1. Mos. 5, 24 (metetethe Sirac. 44, 16. Hebr. 11, 5); anelephthe apo
tes ges Sirac. 49, 14; anekhorese pros to theion, Joseph. antiq. I 3, 4
(von Moses aphanizetai Joseph. antiq. IV 8, 48). -- Auch Henoch ist dem
Schicksal nicht entgangen, von der vergleichenden Mythologie als die
Sonne gedeutet zu werden. Sei's um Henoch, wenn die Orientalisten
nichts dagegen haben; aber dass nur nicht, nach dem beliebten Analogie-
verfahren, auch die nach griechischer Sage Entrückten von Menelaos
bis zu Apollonius von Tyana, uns unter den Händen in mythologische
Sonnen (oder Morgenröthen, feuchte Wiesen, Gewitterwolken u. dgl.)
verzaubert werden!

da herrschenden Neigung nachgebend, an Entlehnung dieser
ältesten griechischen Entrückungssagen aus semitischer Ueber-
lieferung glauben wollen. Gewonnen wäre mit einer solchen
mechanischen Herleitung wenig; es bliebe hier, wie in allen
ähnlichen Fällen, die Hauptsache, der Grund, aus welchem der
griechische Genius die bestimmte Vorstellung zu einer bestimmten
Zeit den Fremden entlehnen mochte, unaufgeklärt. Es spricht
aber auch im vorliegenden Falle nichts dafür, dass der Ent-
rückungsglaube von einem Volke dem anderen überliefert und
nicht vielmehr bei den verschiedenen Völkern aus gleichem Be-
dürfniss frei und selbständig entstanden sei. Die Grundvoraus-
setzungen, auf denen diese, den homerischen Seelenglauben
nicht aufhebende, sondern vielmehr voraussetzende und sanft
ergänzende neue Vorstellung sich aufbaut, waren, wie wir ge-
sehen haben, in einheimisch griechischem Glauben gegeben. Es
bedurfte durchaus keiner Anregung aus der Fremde, damit
aus diesen Elementen sich die allerdings neue und eigenthüm-
lich anziehende Vorstellung bilde, von der die Weissagung des
Proteus uns die erste Kunde bringt.

3.

Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwick-
lung griechischen Glaubens geworden ist, desto nothwendiger
ist es, sich klar zu machen, was eigentlich hier neu geschaffen
ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine Art
griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine
Ausgleichung von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht

ϑεός 1. Mos. 5, 24 (μετετέϑη Sirac. 44, 16. Hebr. 11, 5); ἀνελήφϑη ἀπὸ
τῆς γῆς Sirac. 49, 14; ἀνεχώρησε πρὸς τὸ ϑεῖον, Joseph. antiq. I 3, 4
(von Moses ἀφανίζεται Joseph. antiq. IV 8, 48). — Auch Henoch ist dem
Schicksal nicht entgangen, von der vergleichenden Mythologie als die
Sonne gedeutet zu werden. Sei’s um Henoch, wenn die Orientalisten
nichts dagegen haben; aber dass nur nicht, nach dem beliebten Analogie-
verfahren, auch die nach griechischer Sage Entrückten von Menelaos
bis zu Apollonius von Tyana, uns unter den Händen in mythologische
Sonnen (oder Morgenröthen, feuchte Wiesen, Gewitterwolken u. dgl.)
verzaubert werden!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0089" n="73"/>
da herrschenden Neigung nachgebend, an Entlehnung dieser<lb/>
ältesten griechischen Entrückungssagen aus semitischer Ueber-<lb/>
lieferung glauben wollen. Gewonnen wäre mit einer solchen<lb/>
mechanischen Herleitung wenig; es bliebe hier, wie in allen<lb/>
ähnlichen Fällen, die Hauptsache, der Grund, aus welchem der<lb/>
griechische Genius die bestimmte Vorstellung zu einer bestimmten<lb/>
Zeit den Fremden entlehnen mochte, unaufgeklärt. Es spricht<lb/>
aber auch im vorliegenden Falle nichts dafür, dass der Ent-<lb/>
rückungsglaube von einem Volke dem anderen überliefert und<lb/>
nicht vielmehr bei den verschiedenen Völkern aus gleichem Be-<lb/>
dürfniss frei und selbständig entstanden sei. Die Grundvoraus-<lb/>
setzungen, auf denen diese, den homerischen Seelenglauben<lb/>
nicht aufhebende, sondern vielmehr voraussetzende und sanft<lb/>
ergänzende neue Vorstellung sich aufbaut, waren, wie wir ge-<lb/>
sehen haben, in einheimisch griechischem Glauben gegeben. Es<lb/>
bedurfte durchaus keiner Anregung aus der Fremde, damit<lb/>
aus diesen Elementen sich die allerdings neue und eigenthüm-<lb/>
lich anziehende Vorstellung bilde, von der die Weissagung des<lb/>
Proteus uns die erste Kunde bringt.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>3.</head><lb/>
            <p>Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwick-<lb/>
lung griechischen Glaubens geworden ist, desto nothwendiger<lb/>
ist es, sich klar zu machen, was eigentlich hier neu geschaffen<lb/>
ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine Art<lb/>
griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine<lb/>
Ausgleichung von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht<lb/><note xml:id="seg2pn_16_2" prev="#seg2pn_16_1" place="foot" n="1)">&#x03D1;&#x03B5;&#x03CC;&#x03C2; 1. Mos. 5, 24 (&#x03BC;&#x03B5;&#x03C4;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AD;&#x03D1;&#x03B7; Sirac. 44, 16. Hebr. 11, 5); &#x1F00;&#x03BD;&#x03B5;&#x03BB;&#x03AE;&#x03C6;&#x03D1;&#x03B7; &#x1F00;&#x03C0;&#x1F78;<lb/>
&#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2; &#x03B3;&#x1FC6;&#x03C2; Sirac. 49, 14; &#x1F00;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C7;&#x03CE;&#x03C1;&#x03B7;&#x03C3;&#x03B5; &#x03C0;&#x03C1;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x1F78; &#x03D1;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03BF;&#x03BD;, Joseph. antiq. I 3, 4<lb/>
(von Moses &#x1F00;&#x03C6;&#x03B1;&#x03BD;&#x03AF;&#x03B6;&#x03B5;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; Joseph. antiq. IV 8, 48). &#x2014; Auch Henoch ist dem<lb/>
Schicksal nicht entgangen, von der vergleichenden Mythologie als die<lb/>
Sonne gedeutet zu werden. Sei&#x2019;s um Henoch, wenn die Orientalisten<lb/>
nichts dagegen haben; aber dass nur nicht, nach dem beliebten Analogie-<lb/>
verfahren, auch die nach <hi rendition="#g">griechischer</hi> Sage Entrückten von Menelaos<lb/>
bis zu Apollonius von Tyana, uns unter den Händen in mythologische<lb/>
Sonnen (oder Morgenröthen, feuchte Wiesen, Gewitterwolken u. dgl.)<lb/>
verzaubert werden!</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0089] da herrschenden Neigung nachgebend, an Entlehnung dieser ältesten griechischen Entrückungssagen aus semitischer Ueber- lieferung glauben wollen. Gewonnen wäre mit einer solchen mechanischen Herleitung wenig; es bliebe hier, wie in allen ähnlichen Fällen, die Hauptsache, der Grund, aus welchem der griechische Genius die bestimmte Vorstellung zu einer bestimmten Zeit den Fremden entlehnen mochte, unaufgeklärt. Es spricht aber auch im vorliegenden Falle nichts dafür, dass der Ent- rückungsglaube von einem Volke dem anderen überliefert und nicht vielmehr bei den verschiedenen Völkern aus gleichem Be- dürfniss frei und selbständig entstanden sei. Die Grundvoraus- setzungen, auf denen diese, den homerischen Seelenglauben nicht aufhebende, sondern vielmehr voraussetzende und sanft ergänzende neue Vorstellung sich aufbaut, waren, wie wir ge- sehen haben, in einheimisch griechischem Glauben gegeben. Es bedurfte durchaus keiner Anregung aus der Fremde, damit aus diesen Elementen sich die allerdings neue und eigenthüm- lich anziehende Vorstellung bilde, von der die Weissagung des Proteus uns die erste Kunde bringt. 3. Je wichtiger die neue Schöpfung für die spätere Entwick- lung griechischen Glaubens geworden ist, desto nothwendiger ist es, sich klar zu machen, was eigentlich hier neu geschaffen ist. Ist es ein Paradies für Fromme und Gerechte? eine Art griechischer Walhall für die tapfersten Helden? oder soll eine Ausgleichung von Tugend und Glück, wie sie das Leben nicht 1) 1) ϑεός 1. Mos. 5, 24 (μετετέϑη Sirac. 44, 16. Hebr. 11, 5); ἀνελήφϑη ἀπὸ τῆς γῆς Sirac. 49, 14; ἀνεχώρησε πρὸς τὸ ϑεῖον, Joseph. antiq. I 3, 4 (von Moses ἀφανίζεται Joseph. antiq. IV 8, 48). — Auch Henoch ist dem Schicksal nicht entgangen, von der vergleichenden Mythologie als die Sonne gedeutet zu werden. Sei’s um Henoch, wenn die Orientalisten nichts dagegen haben; aber dass nur nicht, nach dem beliebten Analogie- verfahren, auch die nach griechischer Sage Entrückten von Menelaos bis zu Apollonius von Tyana, uns unter den Händen in mythologische Sonnen (oder Morgenröthen, feuchte Wiesen, Gewitterwolken u. dgl.) verzaubert werden!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/89
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/89>, abgerufen am 21.11.2024.