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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Abrufung der Seele und Errichtung solches leeren Gehäuses
-- für wen anders als die Seele, die dann der Verehrung ihrer
Angehörigen erreichbar bleibt -- hat einen Sinn für diejenigen,
die an die Möglichkeit der Ansiedelung einer "Seele" in der
Nähe der lebenden Freunde glauben, nicht aber für Anhänger
des homerischen Glaubens. Wir sehen zum letzten Male ein
bedeutsames Rudiment ältesten Glaubens in einem in veränderter
Zeit noch nicht ganz abgestorbenen Brauche vor uns. Todt war
auch hier der Glaube, der den Brauch einst hervorgerufen
hatte. Fragt man den homerischen Dichter, zu welchem
Zwecke dem Todten ein Grabhügel aufgeschüttet, ein Merk-
zeichen darauf errichtet werde, so antwortet er: damit sein
Ruhm unter den Menschen unvergänglich bleibe; damit auch
künftige Geschlechter von ihm Kunde haben 1). Das ist echt
homerischer Klang. Mit dem Tode entflieht die Seele in ein
Reich dämmernden Traumlebens, der Leib, der sichtbare
Mensch, zerfällt; was lebendig bleibt, ist im Grunde nichts
als der grosse Name. Von ihm redet der Nachwelt noch das
ehrenvolle Denkzeichen auf dem Grabhügel -- und das Lied
des Sängers. Es ist begreiflich, dass ein Dichter zu solchen
Vorstellungen neigen konnte.


voraus die Mahnung der Athene an Telemach, Od. 1, 291. Menelaos
errichtet dem Agamemnon ein leeres Grab in Aegypten, Od. 4, 584.
1) Od. 4, 584: kheu Agamemnoni tumbon, in asbeston kleos eie. 11, 75 f.:
sema de moi kheuai polues epi thini thalasses, andros dustenoio, kai esso-
menoisi puthesthai. Dem Agamemnon wünscht Achill, in der zweiten Nekyia,
Od. 24, 30 ff.: wärest du doch vor Troja gefallen, dann hätten die Achäer
dir ein Grabmal errichtet und kai so paidi mega kleos era opisso. (Und
im Gegensatz hierzu v. 93 ff. Agamemnon zu Achill: os su men oude thanon
onom olesas, alla toi aiei pantas ep anthropous kleos essetai esthlon,
Akhilleu.) Wie das sema epi platei Ellesponto dazu dient, den vorbei-
fahrenden Schiffer zu erinnern: andros men tode sema palai katatethneotos
u. s. w.; und wie dies sein einziger Zweck zu sein scheint, zeigen die Worte
des Hektor Il. 7, 84 ff. -- Des Gegensatzes wegen vgl. man, was von den
Bewohnern der Philippinen berichtet wird: "sie legten ihre vornehmen
Todten in eine Kiste und stellten sie auf einen erhabenen Ort oder einen
Felsen am Ufer eines Flusses, damit sie von den Frommen verehrt
wurden" (Lippert, Seelencult p. 22).

Abrufung der Seele und Errichtung solches leeren Gehäuses
— für wen anders als die Seele, die dann der Verehrung ihrer
Angehörigen erreichbar bleibt — hat einen Sinn für diejenigen,
die an die Möglichkeit der Ansiedelung einer „Seele“ in der
Nähe der lebenden Freunde glauben, nicht aber für Anhänger
des homerischen Glaubens. Wir sehen zum letzten Male ein
bedeutsames Rudiment ältesten Glaubens in einem in veränderter
Zeit noch nicht ganz abgestorbenen Brauche vor uns. Todt war
auch hier der Glaube, der den Brauch einst hervorgerufen
hatte. Fragt man den homerischen Dichter, zu welchem
Zwecke dem Todten ein Grabhügel aufgeschüttet, ein Merk-
zeichen darauf errichtet werde, so antwortet er: damit sein
Ruhm unter den Menschen unvergänglich bleibe; damit auch
künftige Geschlechter von ihm Kunde haben 1). Das ist echt
homerischer Klang. Mit dem Tode entflieht die Seele in ein
Reich dämmernden Traumlebens, der Leib, der sichtbare
Mensch, zerfällt; was lebendig bleibt, ist im Grunde nichts
als der grosse Name. Von ihm redet der Nachwelt noch das
ehrenvolle Denkzeichen auf dem Grabhügel — und das Lied
des Sängers. Es ist begreiflich, dass ein Dichter zu solchen
Vorstellungen neigen konnte.


voraus die Mahnung der Athene an Telemach, Od. 1, 291. Menelaos
errichtet dem Agamemnon ein leeres Grab in Aegypten, Od. 4, 584.
1) Od. 4, 584: χεῦ̕ Ἀγαμέμνονι τύμβον, ἵν̕ ἄσβεστον κλέος εἴη. 11, 75 f.:
σῆμα δέ μοι χεῦαι πολυῆς ἐπὶ ϑινὶ ϑαλάσσης, ἀνδρὸς δυστήνοιο, καὶ ἐσσο-
μένοισι πυϑέσϑαι. Dem Agamemnon wünscht Achill, in der zweiten Nekyia,
Od. 24, 30 ff.: wärest du doch vor Troja gefallen, dann hätten die Achäer
dir ein Grabmal errichtet und καὶ σῷ παιδὶ μέγα κλέος ἤρα̕ ὀπίσσω. (Und
im Gegensatz hierzu v. 93 ff. Agamemnon zu Achill: ὧς σὺ μὲν οὐδὲ ϑανὼν
ὂνομ̕ ὤλεσας, ἀλλά τοι αἰεὶ πάντας ἐπ̕ ἀνϑρώπους κλέος ἔσσεται ἐσϑλόν,
Ἀχιλλεῦ.) Wie das σῆμα ἐπὶ πλατεῖ Ἑλλησπόντῳ dazu dient, den vorbei-
fahrenden Schiffer zu erinnern: ἀνδρὸς μὲν τόδε σῆμα πάλαι κατατεϑνηῶτος
u. s. w.; und wie dies sein einziger Zweck zu sein scheint, zeigen die Worte
des Hektor Il. 7, 84 ff. — Des Gegensatzes wegen vgl. man, was von den
Bewohnern der Philippinen berichtet wird: „sie legten ihre vornehmen
Todten in eine Kiste und stellten sie auf einen erhabenen Ort oder einen
Felsen am Ufer eines Flusses, damit sie von den Frommen verehrt
wurden“ (Lippert, Seelencult p. 22).
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[62/0078] Abrufung der Seele und Errichtung solches leeren Gehäuses — für wen anders als die Seele, die dann der Verehrung ihrer Angehörigen erreichbar bleibt — hat einen Sinn für diejenigen, die an die Möglichkeit der Ansiedelung einer „Seele“ in der Nähe der lebenden Freunde glauben, nicht aber für Anhänger des homerischen Glaubens. Wir sehen zum letzten Male ein bedeutsames Rudiment ältesten Glaubens in einem in veränderter Zeit noch nicht ganz abgestorbenen Brauche vor uns. Todt war auch hier der Glaube, der den Brauch einst hervorgerufen hatte. Fragt man den homerischen Dichter, zu welchem Zwecke dem Todten ein Grabhügel aufgeschüttet, ein Merk- zeichen darauf errichtet werde, so antwortet er: damit sein Ruhm unter den Menschen unvergänglich bleibe; damit auch künftige Geschlechter von ihm Kunde haben 1). Das ist echt homerischer Klang. Mit dem Tode entflieht die Seele in ein Reich dämmernden Traumlebens, der Leib, der sichtbare Mensch, zerfällt; was lebendig bleibt, ist im Grunde nichts als der grosse Name. Von ihm redet der Nachwelt noch das ehrenvolle Denkzeichen auf dem Grabhügel — und das Lied des Sängers. Es ist begreiflich, dass ein Dichter zu solchen Vorstellungen neigen konnte. 2) 1) Od. 4, 584: χεῦ̕ Ἀγαμέμνονι τύμβον, ἵν̕ ἄσβεστον κλέος εἴη. 11, 75 f.: σῆμα δέ μοι χεῦαι πολυῆς ἐπὶ ϑινὶ ϑαλάσσης, ἀνδρὸς δυστήνοιο, καὶ ἐσσο- μένοισι πυϑέσϑαι. Dem Agamemnon wünscht Achill, in der zweiten Nekyia, Od. 24, 30 ff.: wärest du doch vor Troja gefallen, dann hätten die Achäer dir ein Grabmal errichtet und καὶ σῷ παιδὶ μέγα κλέος ἤρα̕ ὀπίσσω. (Und im Gegensatz hierzu v. 93 ff. Agamemnon zu Achill: ὧς σὺ μὲν οὐδὲ ϑανὼν ὂνομ̕ ὤλεσας, ἀλλά τοι αἰεὶ πάντας ἐπ̕ ἀνϑρώπους κλέος ἔσσεται ἐσϑλόν, Ἀχιλλεῦ.) Wie das σῆμα ἐπὶ πλατεῖ Ἑλλησπόντῳ dazu dient, den vorbei- fahrenden Schiffer zu erinnern: ἀνδρὸς μὲν τόδε σῆμα πάλαι κατατεϑνηῶτος u. s. w.; und wie dies sein einziger Zweck zu sein scheint, zeigen die Worte des Hektor Il. 7, 84 ff. — Des Gegensatzes wegen vgl. man, was von den Bewohnern der Philippinen berichtet wird: „sie legten ihre vornehmen Todten in eine Kiste und stellten sie auf einen erhabenen Ort oder einen Felsen am Ufer eines Flusses, damit sie von den Frommen verehrt wurden“ (Lippert, Seelencult p. 22). 2) voraus die Mahnung der Athene an Telemach, Od. 1, 291. Menelaos errichtet dem Agamemnon ein leeres Grab in Aegypten, Od. 4, 584.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/78>, abgerufen am 24.11.2024.