des ältesten Theils der Hadesfahrt) den Boden homerischen Seelenglaubens kühn verlassen?
Gleichwohl dürfen wir dies festhalten, dass die Strafen der drei "Büsser" nicht etwa die homerische Vorstellung von der Bewusstlosigkeit und Nichtigkeit der Schatten überhaupt umstossen sollten: sie stünden sonst ja auch nicht so friedlich inmitten des Gedichtes, welches diese Vorstellungen zur Vor- aussetzung hat. Sie lassen die Regel bestehen, da sie selbst nur eine Ausnahme darstellen und darstellen wollen. Das könnten sie freilich nicht, wenn man ein Recht hätte, die dichterische Schilderung so auszulegen, dass die drei Unglück- lichen typische Vertreter einzelner Laster und Classen von Lasterhaften sein sollten, etwa "zügelloser Begierde (Tityos), unersättlicher Schwelgerei (Tantalos), und des Hochmuths des Verstandes (Sisyphos)" 1). Dann würde ja an ihnen eine Ver- geltung nur exemplificirt, die man sich eigentlich auf die un- übersehbaren Schaaren der mit gleichen Lastern befleckten Seelen ausgedehnt denken müsste. Nichts aber in den Schil- derungen selbst spricht für eine solche theologisirende Aus- legung, und von vorne herein etwa eine solche Forderung aus- gleichender Vergeltung im Jenseits, die dem Homer vollständig fremd ist und in griechischen Glauben, soweit sie sich über- haupt jemals in ihn eingedrängt hat, erst von grübelnder Mystik spät hineingetragen ist, gerade diesem Dichter aufzudrängen, haben wir kein Recht und keinen Anlass. Allmacht der Gott- heit, das soll uns diese Schilderung offenbar sagen, kann in einzelnen Fällen dem Seelenbild die Besinnung erhalten, wie dem Tiresias zum Lohne, so jenen drei den Göttern Verhassten, damit sie der Strafempfindung zugänglich bleiben. Was eigent- lich an ihnen bestraft wird, lässt sich nach der eigenen An- gabe des Dichters für Tityos leicht vermuthen: es ist ein be- sonderes Vergehen, das jeder von ihnen dereinst gegen Götter begangen hat. Was dem Tantalos zur Last fällt, lässt sich nach sonstiger Ueberlieferung errathen; weniger bestimmt sind
1) So Welcker, Gr. Götterl. 1, 818 und darnach Andere.
des ältesten Theils der Hadesfahrt) den Boden homerischen Seelenglaubens kühn verlassen?
Gleichwohl dürfen wir dies festhalten, dass die Strafen der drei „Büsser“ nicht etwa die homerische Vorstellung von der Bewusstlosigkeit und Nichtigkeit der Schatten überhaupt umstossen sollten: sie stünden sonst ja auch nicht so friedlich inmitten des Gedichtes, welches diese Vorstellungen zur Vor- aussetzung hat. Sie lassen die Regel bestehen, da sie selbst nur eine Ausnahme darstellen und darstellen wollen. Das könnten sie freilich nicht, wenn man ein Recht hätte, die dichterische Schilderung so auszulegen, dass die drei Unglück- lichen typische Vertreter einzelner Laster und Classen von Lasterhaften sein sollten, etwa „zügelloser Begierde (Tityos), unersättlicher Schwelgerei (Tantalos), und des Hochmuths des Verstandes (Sisyphos)“ 1). Dann würde ja an ihnen eine Ver- geltung nur exemplificirt, die man sich eigentlich auf die un- übersehbaren Schaaren der mit gleichen Lastern befleckten Seelen ausgedehnt denken müsste. Nichts aber in den Schil- derungen selbst spricht für eine solche theologisirende Aus- legung, und von vorne herein etwa eine solche Forderung aus- gleichender Vergeltung im Jenseits, die dem Homer vollständig fremd ist und in griechischen Glauben, soweit sie sich über- haupt jemals in ihn eingedrängt hat, erst von grübelnder Mystik spät hineingetragen ist, gerade diesem Dichter aufzudrängen, haben wir kein Recht und keinen Anlass. Allmacht der Gott- heit, das soll uns diese Schilderung offenbar sagen, kann in einzelnen Fällen dem Seelenbild die Besinnung erhalten, wie dem Tiresias zum Lohne, so jenen drei den Göttern Verhassten, damit sie der Strafempfindung zugänglich bleiben. Was eigent- lich an ihnen bestraft wird, lässt sich nach der eigenen An- gabe des Dichters für Tityos leicht vermuthen: es ist ein be- sonderes Vergehen, das jeder von ihnen dereinst gegen Götter begangen hat. Was dem Tantalos zur Last fällt, lässt sich nach sonstiger Ueberlieferung errathen; weniger bestimmt sind
1) So Welcker, Gr. Götterl. 1, 818 und darnach Andere.
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des ältesten Theils der Hadesfahrt) den Boden homerischen
Seelenglaubens kühn verlassen?
Gleichwohl dürfen wir dies festhalten, dass die Strafen
der drei „Büsser“ nicht etwa die homerische Vorstellung von
der Bewusstlosigkeit und Nichtigkeit der Schatten überhaupt
umstossen sollten: sie stünden sonst ja auch nicht so friedlich
inmitten des Gedichtes, welches diese Vorstellungen zur Vor-
aussetzung hat. Sie lassen die Regel bestehen, da sie selbst
nur eine Ausnahme darstellen und darstellen wollen. Das
könnten sie freilich nicht, wenn man ein Recht hätte, die
dichterische Schilderung so auszulegen, dass die drei Unglück-
lichen typische Vertreter einzelner Laster und Classen von
Lasterhaften sein sollten, etwa „zügelloser Begierde (Tityos),
unersättlicher Schwelgerei (Tantalos), und des Hochmuths des
Verstandes (Sisyphos)“ 1). Dann würde ja an ihnen eine Ver-
geltung nur exemplificirt, die man sich eigentlich auf die un-
übersehbaren Schaaren der mit gleichen Lastern befleckten
Seelen ausgedehnt denken müsste. Nichts aber in den Schil-
derungen selbst spricht für eine solche theologisirende Aus-
legung, und von vorne herein etwa eine solche Forderung aus-
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fremd ist und in griechischen Glauben, soweit sie sich über-
haupt jemals in ihn eingedrängt hat, erst von grübelnder Mystik
spät hineingetragen ist, gerade diesem Dichter aufzudrängen,
haben wir kein Recht und keinen Anlass. Allmacht der Gott-
heit, das soll uns diese Schilderung offenbar sagen, kann in
einzelnen Fällen dem Seelenbild die Besinnung erhalten, wie dem
Tiresias zum Lohne, so jenen drei den Göttern Verhassten,
damit sie der Strafempfindung zugänglich bleiben. Was eigent-
lich an ihnen bestraft wird, lässt sich nach der eigenen An-
gabe des Dichters für Tityos leicht vermuthen: es ist ein be-
sonderes Vergehen, das jeder von ihnen dereinst gegen Götter
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/74>, abgerufen am 24.11.2024.
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