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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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klar erkannt hat, dass er mit dem Augenblick des eintretenden
Todes aufhören wird zu sein, so kann ihm weder der Schauder
vor drohender Empfindungslosigkeit, noch das Beben vor den
Schrecken der Ewigkeit 1) oder den gefabelten Ungeheuern einer
Seelenwelt in der Tiefe 2) das Leben verfinstern, alles mit dem
Dunkel des Todes überschattend 3). Er wird dem Leben sich
getrost zuwenden, den Tod nicht fürchtend noch ihn suchend 4).

Das Leben wird er allein, der epikureische Weise als der
wahre Lebenskünstler 5), recht zu fassen wissen, nicht in Zaudern
und Vorbereitungen die Zeit vergehen lassen 6), in den Moment
alle Lebensfülle zusammendrängend, so dass ihm das kurze
Leben allen Inhalt eines langen gewinne. Und ein langes
Leben, selbst ein unaufhörliches Leben würde ihn nicht glück-
licher, nicht reicher machen. Was das Leben ihm gewähren
kann, hat es bald gewährt; es könnte sich fortan nur wieder-
holen. eadem sunt omnia semper 7). Auf eine Ewigkeit gar
des Lebens hinauszublicken, hat der Weise keinen Grund 8).
Er trägt in seiner Persönlichkeit und dem was ihr Gegenwart
ist, alle Bedingungen des Glückes; je vergänglicher auch dieses

1) Laert. 10, 81.
2) Gegen die Furcht vor Qualen und Strafen in der Unterwelt: fr.
340. 341. Lucr. 3. 1011 ff. (in diesem Leben giebt es Qualen wie sie
vom Hades gefabelt werden: Lucr. 3, 978 ff.).
3) metus ille foras praeceps Acheruntis agendus, funditus humanam
qui vitam turbat ab imo, omnia suffundens mortis nigrore, neque ullam esse
voluptatem liquidam puramque relinquit.
Lucr. 3, 37 ff.
4) Laert. 10, 126. ridiculum est, currere ad mortem taedio vitae --
fr.
496.
5) artifex vitae. Seneca epist. 90, 27.
6) -- su de tes aurion ouk on kurios anaballe ton kairon; o de pan-
ton bios mellesmo parapollutai -- fr. 204.
7) negat Epicurus, ne diuturnitatem quidem temporis ad beate viven-
dum aliquid afferre, nec minorem voluptatem percipi in brevitate temporis
quam si sit illa sempiterna.
Cic. Fin. II § 87. Vgl. kur. dox. XIX (p. 75)
khronon ou ton mekiston alla ton ediston karpizetai (o sophos): Laert. 10, 126.
-- quae mala nos subigit vitai tanta cupido? Lucr. 3, 1077. eadem sunt
omnia semper:
ib. 945.
8) e dianoia -- -- ton pantele bion pareskeuasen kai outhen eti tou
apeirou khronou prosedeethe. kur. dox. XX (p. 75).

klar erkannt hat, dass er mit dem Augenblick des eintretenden
Todes aufhören wird zu sein, so kann ihm weder der Schauder
vor drohender Empfindungslosigkeit, noch das Beben vor den
Schrecken der Ewigkeit 1) oder den gefabelten Ungeheuern einer
Seelenwelt in der Tiefe 2) das Leben verfinstern, alles mit dem
Dunkel des Todes überschattend 3). Er wird dem Leben sich
getrost zuwenden, den Tod nicht fürchtend noch ihn suchend 4).

Das Leben wird er allein, der epikureische Weise als der
wahre Lebenskünstler 5), recht zu fassen wissen, nicht in Zaudern
und Vorbereitungen die Zeit vergehen lassen 6), in den Moment
alle Lebensfülle zusammendrängend, so dass ihm das kurze
Leben allen Inhalt eines langen gewinne. Und ein langes
Leben, selbst ein unaufhörliches Leben würde ihn nicht glück-
licher, nicht reicher machen. Was das Leben ihm gewähren
kann, hat es bald gewährt; es könnte sich fortan nur wieder-
holen. eadem sunt omnia semper 7). Auf eine Ewigkeit gar
des Lebens hinauszublicken, hat der Weise keinen Grund 8).
Er trägt in seiner Persönlichkeit und dem was ihr Gegenwart
ist, alle Bedingungen des Glückes; je vergänglicher auch dieses

1) Laert. 10, 81.
2) Gegen die Furcht vor Qualen und Strafen in der Unterwelt: fr.
340. 341. Lucr. 3. 1011 ff. (in diesem Leben giebt es Qualen wie sie
vom Hades gefabelt werden: Lucr. 3, 978 ff.).
3) metus ille foras praeceps Acheruntis agendus, funditus humanam
qui vitam turbat ab imo, omnia suffundens mortis nigrore, neque ullam esse
voluptatem liquidam puramque relinquit.
Lucr. 3, 37 ff.
4) Laert. 10, 126. ridiculum est, currere ad mortem taedio vitae —
fr.
496.
5) artifex vitae. Seneca epist. 90, 27.
6) — σὺ δὲ τῆς αὔριον οὐκ ὢν κύριος ἀναβάλλῃ τὸν καιρόν· ὁ δὲ πάν-
των βίος μελλησμῷ παραπόλλυται — fr. 204.
7) negat Epicurus, ne diuturnitatem quidem temporis ad beate viven-
dum aliquid afferre, nec minorem voluptatem percipi in brevitate temporis
quam si sit illa sempiterna.
Cic. Fin. II § 87. Vgl. κύρ. δόξ. XIX (p. 75)
χρόνον οὐ τὸν μήκιστον ἀλλὰ τὸν ἥδιστον καρπίζεται (ὁ σοφός): Laert. 10, 126.
quae mala nos subigit vitai tanta cupido? Lucr. 3, 1077. eadem sunt
omnia semper:
ib. 945.
8) ἡ διάνοια — — τὸν παντελῆ βίον παρεσκεύασεν καὶ οὐϑὲν ἔτι τοῦ
ἀπείρου χρόνου προςεδεήϑη. κύρ. δόξ. XX (p. 75).
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[624/0640] klar erkannt hat, dass er mit dem Augenblick des eintretenden Todes aufhören wird zu sein, so kann ihm weder der Schauder vor drohender Empfindungslosigkeit, noch das Beben vor den Schrecken der Ewigkeit 1) oder den gefabelten Ungeheuern einer Seelenwelt in der Tiefe 2) das Leben verfinstern, alles mit dem Dunkel des Todes überschattend 3). Er wird dem Leben sich getrost zuwenden, den Tod nicht fürchtend noch ihn suchend 4). Das Leben wird er allein, der epikureische Weise als der wahre Lebenskünstler 5), recht zu fassen wissen, nicht in Zaudern und Vorbereitungen die Zeit vergehen lassen 6), in den Moment alle Lebensfülle zusammendrängend, so dass ihm das kurze Leben allen Inhalt eines langen gewinne. Und ein langes Leben, selbst ein unaufhörliches Leben würde ihn nicht glück- licher, nicht reicher machen. Was das Leben ihm gewähren kann, hat es bald gewährt; es könnte sich fortan nur wieder- holen. eadem sunt omnia semper 7). Auf eine Ewigkeit gar des Lebens hinauszublicken, hat der Weise keinen Grund 8). Er trägt in seiner Persönlichkeit und dem was ihr Gegenwart ist, alle Bedingungen des Glückes; je vergänglicher auch dieses 1) Laert. 10, 81. 2) Gegen die Furcht vor Qualen und Strafen in der Unterwelt: fr. 340. 341. Lucr. 3. 1011 ff. (in diesem Leben giebt es Qualen wie sie vom Hades gefabelt werden: Lucr. 3, 978 ff.). 3) metus ille foras praeceps Acheruntis agendus, funditus humanam qui vitam turbat ab imo, omnia suffundens mortis nigrore, neque ullam esse voluptatem liquidam puramque relinquit. Lucr. 3, 37 ff. 4) Laert. 10, 126. ridiculum est, currere ad mortem taedio vitae — fr. 496. 5) artifex vitae. Seneca epist. 90, 27. 6) — σὺ δὲ τῆς αὔριον οὐκ ὢν κύριος ἀναβάλλῃ τὸν καιρόν· ὁ δὲ πάν- των βίος μελλησμῷ παραπόλλυται — fr. 204. 7) negat Epicurus, ne diuturnitatem quidem temporis ad beate viven- dum aliquid afferre, nec minorem voluptatem percipi in brevitate temporis quam si sit illa sempiterna. Cic. Fin. II § 87. Vgl. κύρ. δόξ. XIX (p. 75) χρόνον οὐ τὸν μήκιστον ἀλλὰ τὸν ἥδιστον καρπίζεται (ὁ σοφός): Laert. 10, 126. — quae mala nos subigit vitai tanta cupido? Lucr. 3, 1077. eadem sunt omnia semper: ib. 945. 8) ἡ διάνοια — — τὸν παντελῆ βίον παρεσκεύασεν καὶ οὐϑὲν ἔτι τοῦ ἀπείρου χρόνου προςεδεήϑη. κύρ. δόξ. XX (p. 75).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/640>, abgerufen am 09.11.2024.