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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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sie nennt), verschieden von einander, aber untrennbar vereint 1),
entstehen im Lebenskeime des Menschen erst bei der Zeugung;
sie wachsen, altern und nehmen ab mit dem Leibe 2); tritt der
Tod ein, so bedeutet dies eine Scheidung der im Leibe ver-
einten Atome, ein Ausscheiden der Seelenatome; noch vor dem
Zerfall des Leibes vergeht die aus ihm geschiedene "Seele",
im Windhauch wird die vom Leibe nicht mehr zusammen-
gehaltene zerblasen, sie verfliegt "wie ein Rauch" an der Luft 3).
Die Seele, diese Seele des einzelnen Menschen, ist nun nicht
mehr 4). Ihre Stofftheile sind unvergänglich; vielleicht dass sie
mit Leibesstoffen einst zu völlig gleicher Verbindung wie ehe-
mals in dem lebendigen Menschen wieder zusammentreten, und
aufs neue Leben und Bewusstsein erzeugen. Aber das wäre
ein neues Wesen, das so entstünde; der frühere Mensch ist im
Tode endgiltig vernichtet, es schlingt sich kein Band zusammen-
hängend erhaltenen Bewusstseins von ihm zu dem neuen Ge-
bilde herüber 5). Die Lebenskräfte der Welt erhalten sich, un-
vermindert, unzerstörbar, aber zur Bildung des einzelnen Lebe-
wesens leihen sie sich nur einmal her, für eine kurze Zeit, um
sich ihm dann für immer wieder zu entziehen. Vitaque man-
cipio nulli datur, omnibus usu.

Den Einzelnen berührt nach seinem Tode so wenig wie
das Schicksal seines entseelten Leibes 6) der Gedanke an das,

der (denen sie ja eingefügt ist) entrissen werden, lässt doch den Men-
schen noch lebendig; der animus, vitai claustra coercens, darf dem Men-
schen nicht verkürzt werden, sonst entweicht auch die anima und er
stirbt. Lucr. 3, 396 ff. Der animus ist in seinen Empfindungen unab-
hängiger von anima und corpus als diese umgekehrt von ihm. Lucr.
3, 145 ff.
1) Lucret. 3, 421--424.
2) Lucret. 3, 445 ff.
3) Die Seele diaspeiretai, luomenou tou olou athroismatos und kann
ausserhalb ihres athroisma nicht mehr aisthesis haben. Laert. 10, 65. 66.
Die Winde zerstreuen sie. Lucr. 3, 508 ff. kapnou diken skidnatai fr. 337.
ceu fumus. Lucr. 3, 456. 583.
4) -- radicitus e vita se tollit et eicit. Lucr. 3, 877.
5) Lucret. 3, 854--860; 847--853.
6) oude taphes phrontiein (ton sophon) -- fr. 578. Vgl. Lucr. 3, 870 ff.

sie nennt), verschieden von einander, aber untrennbar vereint 1),
entstehen im Lebenskeime des Menschen erst bei der Zeugung;
sie wachsen, altern und nehmen ab mit dem Leibe 2); tritt der
Tod ein, so bedeutet dies eine Scheidung der im Leibe ver-
einten Atome, ein Ausscheiden der Seelenatome; noch vor dem
Zerfall des Leibes vergeht die aus ihm geschiedene „Seele“,
im Windhauch wird die vom Leibe nicht mehr zusammen-
gehaltene zerblasen, sie verfliegt „wie ein Rauch“ an der Luft 3).
Die Seele, diese Seele des einzelnen Menschen, ist nun nicht
mehr 4). Ihre Stofftheile sind unvergänglich; vielleicht dass sie
mit Leibesstoffen einst zu völlig gleicher Verbindung wie ehe-
mals in dem lebendigen Menschen wieder zusammentreten, und
aufs neue Leben und Bewusstsein erzeugen. Aber das wäre
ein neues Wesen, das so entstünde; der frühere Mensch ist im
Tode endgiltig vernichtet, es schlingt sich kein Band zusammen-
hängend erhaltenen Bewusstseins von ihm zu dem neuen Ge-
bilde herüber 5). Die Lebenskräfte der Welt erhalten sich, un-
vermindert, unzerstörbar, aber zur Bildung des einzelnen Lebe-
wesens leihen sie sich nur einmal her, für eine kurze Zeit, um
sich ihm dann für immer wieder zu entziehen. Vitaque man-
cipio nulli datur, omnibus usu.

Den Einzelnen berührt nach seinem Tode so wenig wie
das Schicksal seines entseelten Leibes 6) der Gedanke an das,

der (denen sie ja eingefügt ist) entrissen werden, lässt doch den Men-
schen noch lebendig; der animus, vitai claustra coërcens, darf dem Men-
schen nicht verkürzt werden, sonst entweicht auch die anima und er
stirbt. Lucr. 3, 396 ff. Der animus ist in seinen Empfindungen unab-
hängiger von anima und corpus als diese umgekehrt von ihm. Lucr.
3, 145 ff.
1) Lucret. 3, 421—424.
2) Lucret. 3, 445 ff.
3) Die Seele διασπείρεται, λυομένου τοῦ ὅλου ἀϑροίσματος und kann
ausserhalb ihres ἄϑροισμα nicht mehr αἴσϑησις haben. Laert. 10, 65. 66.
Die Winde zerstreuen sie. Lucr. 3, 508 ff. καπνοῦ δίκην σκίδναται fr. 337.
ceu fumus. Lucr. 3, 456. 583.
4)radicitus e vita se tollit et eicit. Lucr. 3, 877.
5) Lucret. 3, 854—860; 847—853.
6) οὐδὲ ταφῆς φροντιεῖν (τὸν σοφόν) — fr. 578. Vgl. Lucr. 3, 870 ff.
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[622/0638] sie nennt), verschieden von einander, aber untrennbar vereint 1), entstehen im Lebenskeime des Menschen erst bei der Zeugung; sie wachsen, altern und nehmen ab mit dem Leibe 2); tritt der Tod ein, so bedeutet dies eine Scheidung der im Leibe ver- einten Atome, ein Ausscheiden der Seelenatome; noch vor dem Zerfall des Leibes vergeht die aus ihm geschiedene „Seele“, im Windhauch wird die vom Leibe nicht mehr zusammen- gehaltene zerblasen, sie verfliegt „wie ein Rauch“ an der Luft 3). Die Seele, diese Seele des einzelnen Menschen, ist nun nicht mehr 4). Ihre Stofftheile sind unvergänglich; vielleicht dass sie mit Leibesstoffen einst zu völlig gleicher Verbindung wie ehe- mals in dem lebendigen Menschen wieder zusammentreten, und aufs neue Leben und Bewusstsein erzeugen. Aber das wäre ein neues Wesen, das so entstünde; der frühere Mensch ist im Tode endgiltig vernichtet, es schlingt sich kein Band zusammen- hängend erhaltenen Bewusstseins von ihm zu dem neuen Ge- bilde herüber 5). Die Lebenskräfte der Welt erhalten sich, un- vermindert, unzerstörbar, aber zur Bildung des einzelnen Lebe- wesens leihen sie sich nur einmal her, für eine kurze Zeit, um sich ihm dann für immer wieder zu entziehen. Vitaque man- cipio nulli datur, omnibus usu. Den Einzelnen berührt nach seinem Tode so wenig wie das Schicksal seines entseelten Leibes 6) der Gedanke an das, 4) 1) Lucret. 3, 421—424. 2) Lucret. 3, 445 ff. 3) Die Seele διασπείρεται, λυομένου τοῦ ὅλου ἀϑροίσματος und kann ausserhalb ihres ἄϑροισμα nicht mehr αἴσϑησις haben. Laert. 10, 65. 66. Die Winde zerstreuen sie. Lucr. 3, 508 ff. καπνοῦ δίκην σκίδναται fr. 337. ceu fumus. Lucr. 3, 456. 583. 4) — radicitus e vita se tollit et eicit. Lucr. 3, 877. 5) Lucret. 3, 854—860; 847—853. 6) οὐδὲ ταφῆς φροντιεῖν (τὸν σοφόν) — fr. 578. Vgl. Lucr. 3, 870 ff. 4) der (denen sie ja eingefügt ist) entrissen werden, lässt doch den Men- schen noch lebendig; der animus, vitai claustra coërcens, darf dem Men- schen nicht verkürzt werden, sonst entweicht auch die anima und er stirbt. Lucr. 3, 396 ff. Der animus ist in seinen Empfindungen unab- hängiger von anima und corpus als diese umgekehrt von ihm. Lucr. 3, 145 ff.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/638>, abgerufen am 01.09.2024.