Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

der Hingebung des eigenen kurzlebigen Ich an das ewige All
und Eine zur Gesinnung geworden. Der Gedanke der Ver-
gänglichkeit des Einzellebens nach kurzer Dauer schien nicht
mehr unerträglich. Man konnte ein Stoiker bleiben, und doch,
wie Cornutus (der Lehrer des Persius), bestimmt aussprechen,
dass mit ihrem Leibe zugleich die Einzelseele sterbe und ver-
gehe 1).

6.

Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine
Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persön-
lichen Lebens zu verzichten.

Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus
den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Ele-
mente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib
erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem
Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend 2). Auch
Epikur redet von der "Seele" als einer im Leibe, den sie re-
giert, beharrenden, eigenen Substanz, einem "Theile" der Leib-
lichkeit, nicht nur der "Harmonie" der Bestandtheile des
Leibes 3). Ja, von zwei Theilen oder Erscheinungsweisen der
"Seele", dem Vernunftlosen, das den ganzen Leib durchwalte,
als dessen Lebenskraft, und dem Vernünftigen in der Brust,
dem Träger des Verstandes und Willens, dem eigentlich letzten
Kern des Lebens im Lebendigen, ohne dessen ungetheilte An-
wesenheit der Tod eintrete 4). Anima und animus (wie Lucrez

1) Cornutus bei Stob. ecl. I 383, 24--384, 2 W.
2) Die psukhe ein soma (asomaton nur der leere Raum, nichts als
Durchgang für die somata) Laert. 10, 67. Sie ist ein soma leptomeres,
par olon to athroisma (der Atome zum Körper) paresparmenon, prosem-
pherestaton de pneumati thermou tina krasin ekhonti Laert. 10, 63 (Lucret.
3, 126 ff. Genauer 3, 231--246). Das athroisma ist es, was ten psukhen
stegazei: § 64, vas quasi constitit eius Lucr. 3, 440. 555.
3) Lucr. 3, 94 ff. 117 ff.
4) Das alogon, o to loipo parespartai somati, to de logikon en to
thoraki. Schol. Laert. 10, 67 (p. 21 Us.) fr. 312. 313 (Usen.) anima und
animus: Lucr. 3, 136 ff. Die anima, verkürzt, wenn dem Menschen Glie-

der Hingebung des eigenen kurzlebigen Ich an das ewige All
und Eine zur Gesinnung geworden. Der Gedanke der Ver-
gänglichkeit des Einzellebens nach kurzer Dauer schien nicht
mehr unerträglich. Man konnte ein Stoiker bleiben, und doch,
wie Cornutus (der Lehrer des Persius), bestimmt aussprechen,
dass mit ihrem Leibe zugleich die Einzelseele sterbe und ver-
gehe 1).

6.

Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine
Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persön-
lichen Lebens zu verzichten.

Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus
den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Ele-
mente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib
erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem
Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend 2). Auch
Epikur redet von der „Seele“ als einer im Leibe, den sie re-
giert, beharrenden, eigenen Substanz, einem „Theile“ der Leib-
lichkeit, nicht nur der „Harmonie“ der Bestandtheile des
Leibes 3). Ja, von zwei Theilen oder Erscheinungsweisen der
„Seele“, dem Vernunftlosen, das den ganzen Leib durchwalte,
als dessen Lebenskraft, und dem Vernünftigen in der Brust,
dem Träger des Verstandes und Willens, dem eigentlich letzten
Kern des Lebens im Lebendigen, ohne dessen ungetheilte An-
wesenheit der Tod eintrete 4). Anima und animus (wie Lucrez

1) Cornutus bei Stob. ecl. I 383, 24—384, 2 W.
2) Die ψυχή ein σῶμα (ἀσώματον nur der leere Raum, nichts als
Durchgang für die σώματα) Laert. 10, 67. Sie ist ein σῶμα λεπτομερές,
παρ̕ ὅλον τὸ ἄϑροισμα (der Atome zum Körper) παρεσπαρμένον, προσεμ-
φερέστατον δὲ πνεύματι ϑερμοῦ τινα κρᾶσιν ἔχοντι Laert. 10, 63 (Lucret.
3, 126 ff. Genauer 3, 231—246). Das ἄϑροισμα ist es, was τὴν ψυχὴν
στεγάζει: § 64, vas quasi constitit eius Lucr. 3, 440. 555.
3) Lucr. 3, 94 ff. 117 ff.
4) Das ἄλογον, ὃ τῷ λοιπῷ παρέσπαρται σώματι, τὸ δὲ λογικὸν ἐν τῷ
ϑώρακι. Schol. Laert. 10, 67 (p. 21 Us.) fr. 312. 313 (Usen.) anima und
animus: Lucr. 3, 136 ff. Die anima, verkürzt, wenn dem Menschen Glie-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0637" n="621"/>
der Hingebung des eigenen kurzlebigen Ich an das ewige All<lb/>
und Eine zur Gesinnung geworden. Der Gedanke der Ver-<lb/>
gänglichkeit des Einzellebens nach kurzer Dauer schien nicht<lb/>
mehr unerträglich. Man konnte ein Stoiker bleiben, und doch,<lb/>
wie Cornutus (der Lehrer des Persius), bestimmt aussprechen,<lb/>
dass mit ihrem Leibe zugleich die Einzelseele sterbe und ver-<lb/>
gehe <note place="foot" n="1)">Cornutus bei Stob. <hi rendition="#i">ecl.</hi> I 383, 24&#x2014;384, 2 W.</note>.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>6.</head><lb/>
            <p>Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine<lb/>
Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persön-<lb/>
lichen Lebens zu verzichten.</p><lb/>
            <p>Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus<lb/>
den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Ele-<lb/>
mente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib<lb/>
erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem<lb/>
Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend <note place="foot" n="2)">Die &#x03C8;&#x03C5;&#x03C7;&#x03AE; ein &#x03C3;&#x1FF6;&#x03BC;&#x03B1; (&#x1F00;&#x03C3;&#x03CE;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD; nur der leere Raum, nichts als<lb/>
Durchgang für die &#x03C3;&#x03CE;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;) Laert. 10, 67. Sie ist ein &#x03C3;&#x1FF6;&#x03BC;&#x03B1; &#x03BB;&#x03B5;&#x03C0;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BC;&#x03B5;&#x03C1;&#x03AD;&#x03C2;,<lb/>
&#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x0315; &#x1F45;&#x03BB;&#x03BF;&#x03BD; &#x03C4;&#x1F78; &#x1F04;&#x03D1;&#x03C1;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C3;&#x03BC;&#x03B1; (der Atome zum Körper) &#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03B5;&#x03C3;&#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD;, &#x03C0;&#x03C1;&#x03BF;&#x03C3;&#x03B5;&#x03BC;-<lb/>
&#x03C6;&#x03B5;&#x03C1;&#x03AD;&#x03C3;&#x03C4;&#x03B1;&#x03C4;&#x03BF;&#x03BD; &#x03B4;&#x1F72; &#x03C0;&#x03BD;&#x03B5;&#x03CD;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B9; &#x03D1;&#x03B5;&#x03C1;&#x03BC;&#x03BF;&#x1FE6; &#x03C4;&#x03B9;&#x03BD;&#x03B1; &#x03BA;&#x03C1;&#x1FB6;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BD; &#x1F14;&#x03C7;&#x03BF;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B9; Laert. 10, 63 (Lucret.<lb/>
3, 126 ff. Genauer 3, 231&#x2014;246). Das &#x1F04;&#x03D1;&#x03C1;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C3;&#x03BC;&#x03B1; ist es, was &#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03C8;&#x03C5;&#x03C7;&#x1F74;&#x03BD;<lb/>
&#x03C3;&#x03C4;&#x03B5;&#x03B3;&#x03AC;&#x03B6;&#x03B5;&#x03B9;: § 64, <hi rendition="#i">vas quasi constitit eius</hi> Lucr. 3, 440. 555.</note>. Auch<lb/>
Epikur redet von der &#x201E;Seele&#x201C; als einer im Leibe, den sie re-<lb/>
giert, beharrenden, eigenen Substanz, einem &#x201E;Theile&#x201C; der Leib-<lb/>
lichkeit, nicht nur der &#x201E;Harmonie&#x201C; der Bestandtheile des<lb/>
Leibes <note place="foot" n="3)">Lucr. 3, 94 ff. 117 ff.</note>. Ja, von zwei Theilen oder Erscheinungsweisen der<lb/>
&#x201E;Seele&#x201C;, dem Vernunftlosen, das den ganzen Leib durchwalte,<lb/>
als dessen Lebenskraft, und dem Vernünftigen in der Brust,<lb/>
dem Träger des Verstandes und Willens, dem eigentlich letzten<lb/>
Kern des Lebens im Lebendigen, ohne dessen ungetheilte An-<lb/>
wesenheit der Tod eintrete <note xml:id="seg2pn_217_1" next="#seg2pn_217_2" place="foot" n="4)">Das &#x1F04;&#x03BB;&#x03BF;&#x03B3;&#x03BF;&#x03BD;, &#x1F43; &#x03C4;&#x1FF7; &#x03BB;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C0;&#x1FF7; &#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03AD;&#x03C3;&#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C3;&#x03CE;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B9;, &#x03C4;&#x1F78; &#x03B4;&#x1F72; &#x03BB;&#x03BF;&#x03B3;&#x03B9;&#x03BA;&#x1F78;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BD; &#x03C4;&#x1FF7;<lb/>
&#x03D1;&#x03CE;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BA;&#x03B9;. Schol. Laert. 10, 67 (p. 21 Us.) <hi rendition="#i">fr.</hi> 312. 313 (Usen.) <hi rendition="#i">anima</hi> und<lb/><hi rendition="#i">animus</hi>: Lucr. 3, 136 ff. Die <hi rendition="#i">anima</hi>, verkürzt, wenn dem Menschen Glie-</note>. <hi rendition="#i">Anima</hi> und <hi rendition="#i">animus</hi> (wie Lucrez<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[621/0637] der Hingebung des eigenen kurzlebigen Ich an das ewige All und Eine zur Gesinnung geworden. Der Gedanke der Ver- gänglichkeit des Einzellebens nach kurzer Dauer schien nicht mehr unerträglich. Man konnte ein Stoiker bleiben, und doch, wie Cornutus (der Lehrer des Persius), bestimmt aussprechen, dass mit ihrem Leibe zugleich die Einzelseele sterbe und ver- gehe 1). 6. Der in Epikurs Lehre erneuerte Atomismus wies seine Anhänger nachdrücklichst an, auf Unvergänglichkeit persön- lichen Lebens zu verzichten. Die Seele ist ihm ein Körperliches, zusammengesetzt aus den beweglichsten Atomen, aus denen sich die dehnbaren Ele- mente, Luft und Feuerhauch, bilden, durch den ganzen Leib erstreckt, von ihm zusammengeschlossen, dennoch von dem Leibe in wesentlicher Verschiedenheit sich erhaltend 2). Auch Epikur redet von der „Seele“ als einer im Leibe, den sie re- giert, beharrenden, eigenen Substanz, einem „Theile“ der Leib- lichkeit, nicht nur der „Harmonie“ der Bestandtheile des Leibes 3). Ja, von zwei Theilen oder Erscheinungsweisen der „Seele“, dem Vernunftlosen, das den ganzen Leib durchwalte, als dessen Lebenskraft, und dem Vernünftigen in der Brust, dem Träger des Verstandes und Willens, dem eigentlich letzten Kern des Lebens im Lebendigen, ohne dessen ungetheilte An- wesenheit der Tod eintrete 4). Anima und animus (wie Lucrez 1) Cornutus bei Stob. ecl. I 383, 24—384, 2 W. 2) Die ψυχή ein σῶμα (ἀσώματον nur der leere Raum, nichts als Durchgang für die σώματα) Laert. 10, 67. Sie ist ein σῶμα λεπτομερές, παρ̕ ὅλον τὸ ἄϑροισμα (der Atome zum Körper) παρεσπαρμένον, προσεμ- φερέστατον δὲ πνεύματι ϑερμοῦ τινα κρᾶσιν ἔχοντι Laert. 10, 63 (Lucret. 3, 126 ff. Genauer 3, 231—246). Das ἄϑροισμα ist es, was τὴν ψυχὴν στεγάζει: § 64, vas quasi constitit eius Lucr. 3, 440. 555. 3) Lucr. 3, 94 ff. 117 ff. 4) Das ἄλογον, ὃ τῷ λοιπῷ παρέσπαρται σώματι, τὸ δὲ λογικὸν ἐν τῷ ϑώρακι. Schol. Laert. 10, 67 (p. 21 Us.) fr. 312. 313 (Usen.) anima und animus: Lucr. 3, 136 ff. Die anima, verkürzt, wenn dem Menschen Glie-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/637
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/637>, abgerufen am 22.12.2024.