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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Dem stoischen Kaiser steht nicht fest, ob der Tod (wie
die Atomisten meinen) eine Zerstreuung der Seelentheile sei,
oder ob der Geist sich erhalte, sei es bewusstlos oder in einem
bewussten Dasein, das doch bald in das Leben des Alls ver-
fliesse. Alles ist in ewigem Wechsel, so will es das Gesetz
der Welt; auch die Person des Menschen wird sich nicht un-
gewandelt erhalten können; -- mag denn der Tod ein "Er-
löschen" dieser kleinen Seelenflamme des Einzelnen sein, er
schreckt den Weisen nicht, dem in der Schwermuth, die den
Grundton seiner in zarter Reinheit hochgestimmten Seele bildet,
der Tod, der Vernichter, wie ein Freund zu winken scheint 1).

von der paliggenesia in neuer Weltbildung: ep. 36, 10. 11. mors inter-
mittit vitam, non eripit: veniet iterum qui nos in lucem reponat dies.
Das
soll keineswegs ein Trost sein: multi recusarent, nisi oblitos reduceret.
Das Bewusstsein reisst also jedenfalls mit dem Tode in dieser Welt-
periode ab.
1) Selten lauten die Aeusserungen des Kaisers über die Dinge nach
dem Tode wie die eines überzeugten Stoikers der alten Schule. Die
Seelen sind alle Theile der Einen noera psukhe der Welt, die, wiewohl
auf so viele Einzelseelen ausgedehnt, doch als Einheit sich erhält: IX 8;
XII 30. Nach dem Tode wird die Einzelseele eine Zeitlang sich er-
halten, im Luftraum, bis sie in die Seele des All, eis ton ton olon sper-
matikon logon aufgenommen wird: IV 21. Hier ist von einer Erhaltung
der Person, auf unbestimmte Dauer, die Rede. Aber das ist nicht fest-
stehende Ueberzeugung M. Aurel's. Zumeist lässt er die Wahl, ob man
annehmen wolle: sbesis e metastasis, d. h. sofort eintretender Untergang
der Einzelseele (wie Panaetius) oder deren Uebergang in den zeitweiligen
Aufenthalt im Seelenreiche der Luft (ai eis ton aera methistamenai psukhai
IV 21): V 33; oder sbesis, metastasis (diese beiden bei der stoischen An-
nahme der enosis der Seele) oder gar skedasmos der Seelenelemente, falls die
Atomisten Recht haben: VII 32; VIII 25. VI 24 ein Dilemma, das auf
skedasmos oder sbesis [= lephthenai eis tous tou kosmou spermatikous logous]
hinauskommt. Also nicht mehr metastasis. Dasselbe soll wohl besagen X 7
etoi skedasmos ton stoikheion e trope (wobei das pneumatikon eis to aerodes
übergeht) und zwar trope nur des letzten pneumatikon das man in sich
trug: denn hier ist (am Schluss des Capitels) sogar die Identität der
Einzelseele mit sich selbst, nach heraklitischer Weise (s. oben p. 440, 1),
aufgegeben. Andere Male wird die Wahl gelassen zwischen anai-
sthesia oder eteros bios nach dem Tode (III 3), oder aisthesis eteroia
in einem alloion zoon: VIII 58. Damit ist nicht Metempsychose an-
gedeutet (in der wohl die Hülle der Seele eine andere, aber nicht deren

Dem stoischen Kaiser steht nicht fest, ob der Tod (wie
die Atomisten meinen) eine Zerstreuung der Seelentheile sei,
oder ob der Geist sich erhalte, sei es bewusstlos oder in einem
bewussten Dasein, das doch bald in das Leben des Alls ver-
fliesse. Alles ist in ewigem Wechsel, so will es das Gesetz
der Welt; auch die Person des Menschen wird sich nicht un-
gewandelt erhalten können; — mag denn der Tod ein „Er-
löschen“ dieser kleinen Seelenflamme des Einzelnen sein, er
schreckt den Weisen nicht, dem in der Schwermuth, die den
Grundton seiner in zarter Reinheit hochgestimmten Seele bildet,
der Tod, der Vernichter, wie ein Freund zu winken scheint 1).

von der παλιγγενεσία in neuer Weltbildung: ep. 36, 10. 11. mors inter-
mittit vitam, non eripit: veniet iterum qui nos in lucem reponat dies.
Das
soll keineswegs ein Trost sein: multi recusarent, nisi oblitos reduceret.
Das Bewusstsein reisst also jedenfalls mit dem Tode in dieser Welt-
periode ab.
1) Selten lauten die Aeusserungen des Kaisers über die Dinge nach
dem Tode wie die eines überzeugten Stoikers der alten Schule. Die
Seelen sind alle Theile der Einen νοερὰ ψυχή der Welt, die, wiewohl
auf so viele Einzelseelen ausgedehnt, doch als Einheit sich erhält: IX 8;
XII 30. Nach dem Tode wird die Einzelseele eine Zeitlang sich er-
halten, im Luftraum, bis sie in die Seele des All, εἰς τὸν τῶν ὅλων σπερ-
ματικὸν λόγον aufgenommen wird: IV 21. Hier ist von einer Erhaltung
der Person, auf unbestimmte Dauer, die Rede. Aber das ist nicht fest-
stehende Ueberzeugung M. Aurel’s. Zumeist lässt er die Wahl, ob man
annehmen wolle: σβέσις ἢ μετάστασις, d. h. sofort eintretender Untergang
der Einzelseele (wie Panaetius) oder deren Uebergang in den zeitweiligen
Aufenthalt im Seelenreiche der Luft (αἱ εἰς τὸν ἀέρα μεϑιστάμεναι ψυχαί
IV 21): V 33; oder σβέσις, μετάστασις (diese beiden bei der stoischen An-
nahme der ἕνωσις der Seele) oder gar σκεδασμός der Seelenelemente, falls die
Atomisten Recht haben: VII 32; VIII 25. VI 24 ein Dilemma, das auf
σκεδασμός oder σβέσις [= ληφϑῆναι εἰς τοὺς τοῦ κόσμου σπερματικοὺς λόγους]
hinauskommt. Also nicht mehr μετάστασις. Dasselbe soll wohl besagen X 7
ἤτοι σκεδασμὸς τῶν στοιχείων ἢ τροπή (wobei das πνευματικὸν εἰς τὸ ἀερῶδες
übergeht) und zwar τροπή nur des letzten πνευματικόν das man in sich
trug: denn hier ist (am Schluss des Capitels) sogar die Identität der
Einzelseele mit sich selbst, nach heraklitischer Weise (s. oben p. 440, 1),
aufgegeben. Andere Male wird die Wahl gelassen zwischen ἀναι-
σϑησία oder ἕτερος βίος nach dem Tode (III 3), oder αἴσϑησις ἑτεροία
in einem ἀλλοῖον ζῷον: VIII 58. Damit ist nicht Metempsychose an-
gedeutet (in der wohl die Hülle der Seele eine andere, aber nicht deren
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[619/0635] Dem stoischen Kaiser steht nicht fest, ob der Tod (wie die Atomisten meinen) eine Zerstreuung der Seelentheile sei, oder ob der Geist sich erhalte, sei es bewusstlos oder in einem bewussten Dasein, das doch bald in das Leben des Alls ver- fliesse. Alles ist in ewigem Wechsel, so will es das Gesetz der Welt; auch die Person des Menschen wird sich nicht un- gewandelt erhalten können; — mag denn der Tod ein „Er- löschen“ dieser kleinen Seelenflamme des Einzelnen sein, er schreckt den Weisen nicht, dem in der Schwermuth, die den Grundton seiner in zarter Reinheit hochgestimmten Seele bildet, der Tod, der Vernichter, wie ein Freund zu winken scheint 1). 4) 1) Selten lauten die Aeusserungen des Kaisers über die Dinge nach dem Tode wie die eines überzeugten Stoikers der alten Schule. Die Seelen sind alle Theile der Einen νοερὰ ψυχή der Welt, die, wiewohl auf so viele Einzelseelen ausgedehnt, doch als Einheit sich erhält: IX 8; XII 30. Nach dem Tode wird die Einzelseele eine Zeitlang sich er- halten, im Luftraum, bis sie in die Seele des All, εἰς τὸν τῶν ὅλων σπερ- ματικὸν λόγον aufgenommen wird: IV 21. Hier ist von einer Erhaltung der Person, auf unbestimmte Dauer, die Rede. Aber das ist nicht fest- stehende Ueberzeugung M. Aurel’s. Zumeist lässt er die Wahl, ob man annehmen wolle: σβέσις ἢ μετάστασις, d. h. sofort eintretender Untergang der Einzelseele (wie Panaetius) oder deren Uebergang in den zeitweiligen Aufenthalt im Seelenreiche der Luft (αἱ εἰς τὸν ἀέρα μεϑιστάμεναι ψυχαί IV 21): V 33; oder σβέσις, μετάστασις (diese beiden bei der stoischen An- nahme der ἕνωσις der Seele) oder gar σκεδασμός der Seelenelemente, falls die Atomisten Recht haben: VII 32; VIII 25. VI 24 ein Dilemma, das auf σκεδασμός oder σβέσις [= ληφϑῆναι εἰς τοὺς τοῦ κόσμου σπερματικοὺς λόγους] hinauskommt. Also nicht mehr μετάστασις. Dasselbe soll wohl besagen X 7 ἤτοι σκεδασμὸς τῶν στοιχείων ἢ τροπή (wobei das πνευματικὸν εἰς τὸ ἀερῶδες übergeht) und zwar τροπή nur des letzten πνευματικόν das man in sich trug: denn hier ist (am Schluss des Capitels) sogar die Identität der Einzelseele mit sich selbst, nach heraklitischer Weise (s. oben p. 440, 1), aufgegeben. Andere Male wird die Wahl gelassen zwischen ἀναι- σϑησία oder ἕτερος βίος nach dem Tode (III 3), oder αἴσϑησις ἑτεροία in einem ἀλλοῖον ζῷον: VIII 58. Damit ist nicht Metempsychose an- gedeutet (in der wohl die Hülle der Seele eine andere, aber nicht deren 4) von der παλιγγενεσία in neuer Weltbildung: ep. 36, 10. 11. mors inter- mittit vitam, non eripit: veniet iterum qui nos in lucem reponat dies. Das soll keineswegs ein Trost sein: multi recusarent, nisi oblitos reduceret. Das Bewusstsein reisst also jedenfalls mit dem Tode in dieser Welt- periode ab.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/635>, abgerufen am 25.11.2024.