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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Bedrängniss und Mangel, und erst recht in des Lebens Ueber-
fluss seinen Anhängern die Freiheit und Selbstbestimmung des
auf der eigenen Tugend ruhenden Geistes zu bewahren. Es
war nicht immer nur die Nachahmung einer litterarischen Mode
oder die Lust an der Prahlerei tugendhafter Paradoxien, was
die Edelsten der hohen römischen Gesellschaft der stoischen
Lehre zuführte. Nicht wenige haben nach deren Grundsätzen
gelebt, und sind für ihre Ueberzeugung gestorben. Nicht ganz
"ohne tragisches Pathos", wie der stoische Kaiser es wünscht,
aber mit überlegtem Entschluss, nicht in verblendeter Hart-
näckigkeit 1) gingen diese Blutzeugen des Stoicismus in den Tod.
Es war nicht die unbeirrte Gewissheit des Fortlebens in höherer
Daseinsform, was ihnen leicht machte, das irdische Leben preis-
zugeben 2). Noch reden zu uns, ein jeder in den besonderen
Tönen, die ihnen Temperament und Lebenslage eingaben, die
Vertreter dieses römischen Stoicismus, Seneca, der Philosoph
für die Welt und Mark Aurel der Kaiser, und die Lehrer und
Vorbilder hochstrebender römischer Jugend, Musonius und
Epiktet. Aber die ernstlich anhaltende Bemühung dieser Weisen
um Selbsterziehung zu Ruhe, Freiheit und Frieden, Reinheit
und Güte des Sinnes, die sie uns alle (und nicht am wenigsten
Seneca, dem die Schulung zur Weisheit ein steter Kriegsgang
mit seiner eigenen Natur und allzu empfänglichen Phantasie
sein musste) so ehrwürdig macht, -- wie sie nicht nach einem
überirdischen Helfer und Erlöser ausspäht, sondern aus der
Kraft des eigenen Geistes das Vertrauen auf die Erreichung

1) ou kata psilen parataxin, alla lelogismenos kai semnos, wenn
auch nicht durchaus atragodos (M. Aurel 11, 3).
2) Nur untersuchen will Julius Kanus, als ihn Gaius in den Tod
schickt, ob an dem Unsterblichkeitsglauben etwas sei: Sen. tranq. an.
14, 8. 9. De natura animae et dissociatione spiritus corporisque inquirebat
Thrasea Paetus vor seiner Hinrichtung mit seinem Lehrer, Demetrius dem
Cyniker: Tac. ann. 16, 34. Eine feststehende Ueberzeugung in diesen
Fragen, die ihnen ein Motiv für ihr Heldenthum hätte werden können,
haben sie nicht (Cato liest vor seinem Selbstmord den Phaedon: Plut.
Cato min. 68. 70).

Bedrängniss und Mangel, und erst recht in des Lebens Ueber-
fluss seinen Anhängern die Freiheit und Selbstbestimmung des
auf der eigenen Tugend ruhenden Geistes zu bewahren. Es
war nicht immer nur die Nachahmung einer litterarischen Mode
oder die Lust an der Prahlerei tugendhafter Paradoxien, was
die Edelsten der hohen römischen Gesellschaft der stoischen
Lehre zuführte. Nicht wenige haben nach deren Grundsätzen
gelebt, und sind für ihre Ueberzeugung gestorben. Nicht ganz
„ohne tragisches Pathos“, wie der stoische Kaiser es wünscht,
aber mit überlegtem Entschluss, nicht in verblendeter Hart-
näckigkeit 1) gingen diese Blutzeugen des Stoicismus in den Tod.
Es war nicht die unbeirrte Gewissheit des Fortlebens in höherer
Daseinsform, was ihnen leicht machte, das irdische Leben preis-
zugeben 2). Noch reden zu uns, ein jeder in den besonderen
Tönen, die ihnen Temperament und Lebenslage eingaben, die
Vertreter dieses römischen Stoicismus, Seneca, der Philosoph
für die Welt und Mark Aurel der Kaiser, und die Lehrer und
Vorbilder hochstrebender römischer Jugend, Musonius und
Epiktet. Aber die ernstlich anhaltende Bemühung dieser Weisen
um Selbsterziehung zu Ruhe, Freiheit und Frieden, Reinheit
und Güte des Sinnes, die sie uns alle (und nicht am wenigsten
Seneca, dem die Schulung zur Weisheit ein steter Kriegsgang
mit seiner eigenen Natur und allzu empfänglichen Phantasie
sein musste) so ehrwürdig macht, — wie sie nicht nach einem
überirdischen Helfer und Erlöser ausspäht, sondern aus der
Kraft des eigenen Geistes das Vertrauen auf die Erreichung

1) οὐ κατὰ ψιλὴν παράταξιν, ἀλλὰ λελογισμένως καὶ σεμνῶς, wenn
auch nicht durchaus ἀτραγῴδως (M. Aurel 11, 3).
2) Nur untersuchen will Julius Kanus, als ihn Gaius in den Tod
schickt, ob an dem Unsterblichkeitsglauben etwas sei: Sen. tranq. an.
14, 8. 9. De natura animae et dissociatione spiritus corporisque inquirebat
Thrasea Paetus vor seiner Hinrichtung mit seinem Lehrer, Demetrius dem
Cyniker: Tac. ann. 16, 34. Eine feststehende Ueberzeugung in diesen
Fragen, die ihnen ein Motiv für ihr Heldenthum hätte werden können,
haben sie nicht (Cato liest vor seinem Selbstmord den Phaedon: Plut.
Cato min. 68. 70).
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[617/0633] Bedrängniss und Mangel, und erst recht in des Lebens Ueber- fluss seinen Anhängern die Freiheit und Selbstbestimmung des auf der eigenen Tugend ruhenden Geistes zu bewahren. Es war nicht immer nur die Nachahmung einer litterarischen Mode oder die Lust an der Prahlerei tugendhafter Paradoxien, was die Edelsten der hohen römischen Gesellschaft der stoischen Lehre zuführte. Nicht wenige haben nach deren Grundsätzen gelebt, und sind für ihre Ueberzeugung gestorben. Nicht ganz „ohne tragisches Pathos“, wie der stoische Kaiser es wünscht, aber mit überlegtem Entschluss, nicht in verblendeter Hart- näckigkeit 1) gingen diese Blutzeugen des Stoicismus in den Tod. Es war nicht die unbeirrte Gewissheit des Fortlebens in höherer Daseinsform, was ihnen leicht machte, das irdische Leben preis- zugeben 2). Noch reden zu uns, ein jeder in den besonderen Tönen, die ihnen Temperament und Lebenslage eingaben, die Vertreter dieses römischen Stoicismus, Seneca, der Philosoph für die Welt und Mark Aurel der Kaiser, und die Lehrer und Vorbilder hochstrebender römischer Jugend, Musonius und Epiktet. Aber die ernstlich anhaltende Bemühung dieser Weisen um Selbsterziehung zu Ruhe, Freiheit und Frieden, Reinheit und Güte des Sinnes, die sie uns alle (und nicht am wenigsten Seneca, dem die Schulung zur Weisheit ein steter Kriegsgang mit seiner eigenen Natur und allzu empfänglichen Phantasie sein musste) so ehrwürdig macht, — wie sie nicht nach einem überirdischen Helfer und Erlöser ausspäht, sondern aus der Kraft des eigenen Geistes das Vertrauen auf die Erreichung 1) οὐ κατὰ ψιλὴν παράταξιν, ἀλλὰ λελογισμένως καὶ σεμνῶς, wenn auch nicht durchaus ἀτραγῴδως (M. Aurel 11, 3). 2) Nur untersuchen will Julius Kanus, als ihn Gaius in den Tod schickt, ob an dem Unsterblichkeitsglauben etwas sei: Sen. tranq. an. 14, 8. 9. De natura animae et dissociatione spiritus corporisque inquirebat Thrasea Paetus vor seiner Hinrichtung mit seinem Lehrer, Demetrius dem Cyniker: Tac. ann. 16, 34. Eine feststehende Ueberzeugung in diesen Fragen, die ihnen ein Motiv für ihr Heldenthum hätte werden können, haben sie nicht (Cato liest vor seinem Selbstmord den Phaedon: Plut. Cato min. 68. 70).

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 617. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/633>, abgerufen am 25.11.2024.