des Odysseus einen ganz anderen Zweck verfolgt; er war nichts weniger als ein antiker Dante. Man erkennt die Absicht, die ihn bestimmte, sobald man seine Dichtung von den Zusätzen mancherlei Art säubert, mit denen spätere Zeiten sie umbaut haben. Es bleibt dann als ursprünglicher Kern des Gedichtes nichts übrig als eine Reihe von Gesprächen des Odysseus mit Seelen solcher Verstorbenen, zu denen er in enger persönlicher Beziehung gestanden hat; ausser mit Tiresias redet er mit seinem eben aus dem Leben geschiedenen Schiffsgenossen Elpe- nor, mit seiner Mutter Antikleia, mit Agamemnon und Achill, und versucht vergeblich mit dem grollenden Ajas ein versöhnendes Gespräch anzuknüpfen. Diese Unterredungen im Todtenreiche sind für die Bewegung und Bestimmung der Handlung des Ge- sammtgedichtes von Odysseus' Fahrt und Heimkehr in keiner Weise nothwendig, sie dienen aber auch nur in ganz geringem Maasse und nur nebenbei einer Aufklärung über die Zustände und Stimmungen im räthselhaften Jenseits; denn Fragen und Antworten beziehen sich durchweg auf Angelegenheiten der oberen Welt. Sie bringen den Odysseus, der nun schon so lange fern von den Reichen der thätigen Menschheit einsam umirrt, in geistige Verbindung mit den Kreisen der Wirklich- keit, zu denen seine Gedanken streben, in denen er einst selbst wirksam gewesen ist und bald wieder kraftvoll thätig sein wird. Die Mutter berichtet ihm von den zerstörten Lebensverhält- nissen auf Ithaka, Agamemnon von der frevelhaften That des Aegisth und der Beihülfe der Klytaemnestra, Odysseus selbst kann dem Achill Tröstliches sagen von den Heldenthaten des Sohnes, der noch droben im Lichte ist; den auch im Hades grollenden Ajas vermag er nicht zu versöhnen. So klingt das Thema des zweiten Theils der Odyssee bereits vor, von den grossen Thaten des troischen Krieges, den Abenteuern der Rückkehr, die damals aller Sänger Sinne beschäftigte, tönt ein Nachhall bis zu den Schatten hinunter. Die Ausführung dieser, im Gespräch der betheiligten Personen mitgetheilten Erzählungen ist dem Dichter eigentlich die Hauptsache. Der
des Odysseus einen ganz anderen Zweck verfolgt; er war nichts weniger als ein antiker Dante. Man erkennt die Absicht, die ihn bestimmte, sobald man seine Dichtung von den Zusätzen mancherlei Art säubert, mit denen spätere Zeiten sie umbaut haben. Es bleibt dann als ursprünglicher Kern des Gedichtes nichts übrig als eine Reihe von Gesprächen des Odysseus mit Seelen solcher Verstorbenen, zu denen er in enger persönlicher Beziehung gestanden hat; ausser mit Tiresias redet er mit seinem eben aus dem Leben geschiedenen Schiffsgenossen Elpe- nor, mit seiner Mutter Antikleia, mit Agamemnon und Achill, und versucht vergeblich mit dem grollenden Ajas ein versöhnendes Gespräch anzuknüpfen. Diese Unterredungen im Todtenreiche sind für die Bewegung und Bestimmung der Handlung des Ge- sammtgedichtes von Odysseus’ Fahrt und Heimkehr in keiner Weise nothwendig, sie dienen aber auch nur in ganz geringem Maasse und nur nebenbei einer Aufklärung über die Zustände und Stimmungen im räthselhaften Jenseits; denn Fragen und Antworten beziehen sich durchweg auf Angelegenheiten der oberen Welt. Sie bringen den Odysseus, der nun schon so lange fern von den Reichen der thätigen Menschheit einsam umirrt, in geistige Verbindung mit den Kreisen der Wirklich- keit, zu denen seine Gedanken streben, in denen er einst selbst wirksam gewesen ist und bald wieder kraftvoll thätig sein wird. Die Mutter berichtet ihm von den zerstörten Lebensverhält- nissen auf Ithaka, Agamemnon von der frevelhaften That des Aegisth und der Beihülfe der Klytaemnestra, Odysseus selbst kann dem Achill Tröstliches sagen von den Heldenthaten des Sohnes, der noch droben im Lichte ist; den auch im Hades grollenden Ajas vermag er nicht zu versöhnen. So klingt das Thema des zweiten Theils der Odyssee bereits vor, von den grossen Thaten des troischen Krieges, den Abenteuern der Rückkehr, die damals aller Sänger Sinne beschäftigte, tönt ein Nachhall bis zu den Schatten hinunter. Die Ausführung dieser, im Gespräch der betheiligten Personen mitgetheilten Erzählungen ist dem Dichter eigentlich die Hauptsache. Der
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des Odysseus einen ganz anderen Zweck verfolgt; er war nichts
weniger als ein antiker Dante. Man erkennt die Absicht, die
ihn bestimmte, sobald man seine Dichtung von den Zusätzen
mancherlei Art säubert, mit denen spätere Zeiten sie umbaut
haben. Es bleibt dann als ursprünglicher Kern des Gedichtes
nichts übrig als eine Reihe von Gesprächen des Odysseus mit
Seelen solcher Verstorbenen, zu denen er in enger persönlicher
Beziehung gestanden hat; ausser mit Tiresias redet er mit
seinem eben aus dem Leben geschiedenen Schiffsgenossen Elpe-
nor, mit seiner Mutter Antikleia, mit Agamemnon und Achill, und
versucht vergeblich mit dem grollenden Ajas ein versöhnendes
Gespräch anzuknüpfen. Diese Unterredungen im Todtenreiche
sind für die Bewegung und Bestimmung der Handlung des Ge-
sammtgedichtes von Odysseus’ Fahrt und Heimkehr in keiner
Weise nothwendig, sie dienen aber auch nur in ganz geringem
Maasse und nur nebenbei einer Aufklärung über die Zustände
und Stimmungen im räthselhaften Jenseits; denn Fragen und
Antworten beziehen sich durchweg auf Angelegenheiten der
oberen Welt. Sie bringen den Odysseus, der nun schon so
lange fern von den Reichen der thätigen Menschheit einsam
umirrt, in geistige Verbindung mit den Kreisen der Wirklich-
keit, zu denen seine Gedanken streben, in denen er einst selbst
wirksam gewesen ist und bald wieder kraftvoll thätig sein wird.
Die Mutter berichtet ihm von den zerstörten Lebensverhält-
nissen auf Ithaka, Agamemnon von der frevelhaften That des
Aegisth und der Beihülfe der Klytaemnestra, Odysseus selbst
kann dem Achill Tröstliches sagen von den Heldenthaten des
Sohnes, der noch droben im Lichte ist; den auch im Hades
grollenden Ajas vermag er nicht zu versöhnen. So klingt das
Thema des zweiten Theils der Odyssee bereits vor, von den
grossen Thaten des troischen Krieges, den Abenteuern der
Rückkehr, die damals aller Sänger Sinne beschäftigte, tönt
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/63>, abgerufen am 27.11.2024.
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