doch nicht mehr, im Bunde mit Sitte und Lebensart des Volkes, Erzieherin zu Weisheit und Welterkenntniss. Sie wird ein spielendes Nebenher; Gehalt und Form der Bildung be- stimmt die Wissenschaft. Und diese, auf verbreiteter Wissen- schaft beruhende Bildung nimmt von dem Wesen aller Wissen- schaft an. Die Wissenschaft hält im Leben fest; sie giebt im Diesseitigen dem Geiste zu thun; sie fühlt geringen Drang, über den Kreis des Erkennbaren, nie genügend Erkannten, hinaus in das Unfassbare, der Forschung Unzugängliche zu streben. Ein gelassener Rationalismus, ein heiteres Beharren im vernünftig Denkbaren, ohne Sehnsucht nach den Schauern einer geheimnissvollen Hinterwelt -- eine solche Stimmung be- herrscht Wissenschaft und Bildung der hellenistischen Zeit mehr als die irgend eines andern Abschnittes griechischer Culturentwicklung. Was an Mystik lebendig und triebkräftig blieb in dieser Zeit, hielt sich scheu im Hintergrunde; in deut- lichem Lichte nimmt man eher ihr volles Gegentheil wahr, die unerfreulichen Ergebnisse des herrschenden Rationalismus, eine kahle Verständigkeit, einen altklugen und nüchternen Sinn, wie er aus der Geschichtserzählung des Polybius uns matten Auges entgegenblickt, als die Seelenstimmung des Erzählers selbst und derer von denen er erzählt. Das war nicht eine Zeit der Heroen und des Heroismus. Das schwächer und feiner ge- wordene Geschlecht hängt am Leben. Wie nie zuvor hatte der Einzelne, bei dem Niedergang des politischen Lebens und seiner Pflichtforderungen, nun Freiheit, sich selbst zu leben 1). Und er geniesst seiner Freiheit, seiner Bildung, der Schätze einer durch allen Schmuck und Reiz einer vollendeten Cultur bereicherten Innerlichkeit. Alle Vorzeit hat für ihn gedacht und gearbeitet; nicht müssig, aber ohne Hast beschäftigt, ruht er aus auf seinem Erbe, im halb verkühlten Sonnenscheine des lang hinausgesponnenen Herbstes des Griechenthums. Noch
1) tois eleutherois ekista exestin o ti etukhe poiein, alla panta e ta pleista tetaktai. Aristot. Metaph. 1075 a, 19. Diese Art der Frei- heit war jetzt gewesen und vorbei.
doch nicht mehr, im Bunde mit Sitte und Lebensart des Volkes, Erzieherin zu Weisheit und Welterkenntniss. Sie wird ein spielendes Nebenher; Gehalt und Form der Bildung be- stimmt die Wissenschaft. Und diese, auf verbreiteter Wissen- schaft beruhende Bildung nimmt von dem Wesen aller Wissen- schaft an. Die Wissenschaft hält im Leben fest; sie giebt im Diesseitigen dem Geiste zu thun; sie fühlt geringen Drang, über den Kreis des Erkennbaren, nie genügend Erkannten, hinaus in das Unfassbare, der Forschung Unzugängliche zu streben. Ein gelassener Rationalismus, ein heiteres Beharren im vernünftig Denkbaren, ohne Sehnsucht nach den Schauern einer geheimnissvollen Hinterwelt — eine solche Stimmung be- herrscht Wissenschaft und Bildung der hellenistischen Zeit mehr als die irgend eines andern Abschnittes griechischer Culturentwicklung. Was an Mystik lebendig und triebkräftig blieb in dieser Zeit, hielt sich scheu im Hintergrunde; in deut- lichem Lichte nimmt man eher ihr volles Gegentheil wahr, die unerfreulichen Ergebnisse des herrschenden Rationalismus, eine kahle Verständigkeit, einen altklugen und nüchternen Sinn, wie er aus der Geschichtserzählung des Polybius uns matten Auges entgegenblickt, als die Seelenstimmung des Erzählers selbst und derer von denen er erzählt. Das war nicht eine Zeit der Heroën und des Heroismus. Das schwächer und feiner ge- wordene Geschlecht hängt am Leben. Wie nie zuvor hatte der Einzelne, bei dem Niedergang des politischen Lebens und seiner Pflichtforderungen, nun Freiheit, sich selbst zu leben 1). Und er geniesst seiner Freiheit, seiner Bildung, der Schätze einer durch allen Schmuck und Reiz einer vollendeten Cultur bereicherten Innerlichkeit. Alle Vorzeit hat für ihn gedacht und gearbeitet; nicht müssig, aber ohne Hast beschäftigt, ruht er aus auf seinem Erbe, im halb verkühlten Sonnenscheine des lang hinausgesponnenen Herbstes des Griechenthums. Noch
1) τοῖς ἐλευϑέροις ἥκιστα ἔξεστιν ὅ τι ἔτυχε ποιεῖν, ἀλλὰ πάντα ἢ τὰ πλεῖστα τέτακται. Aristot. Metaph. 1075 a, 19. Diese Art der Frei- heit war jetzt gewesen und vorbei.
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doch nicht mehr, im Bunde mit Sitte und Lebensart des
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ein spielendes Nebenher; Gehalt und Form der Bildung be-
stimmt die Wissenschaft. Und diese, auf verbreiteter Wissen-
schaft beruhende Bildung nimmt von dem Wesen aller Wissen-
schaft an. Die Wissenschaft hält im Leben fest; sie giebt im
Diesseitigen dem Geiste zu thun; sie fühlt geringen Drang,
über den Kreis des Erkennbaren, nie genügend Erkannten,
hinaus in das Unfassbare, der Forschung Unzugängliche zu
streben. Ein gelassener Rationalismus, ein heiteres Beharren
im vernünftig Denkbaren, ohne Sehnsucht nach den Schauern
einer geheimnissvollen Hinterwelt — eine solche Stimmung be-
herrscht Wissenschaft und Bildung der hellenistischen Zeit
mehr als die irgend eines andern Abschnittes griechischer
Culturentwicklung. Was an Mystik lebendig und triebkräftig
blieb in dieser Zeit, hielt sich scheu im Hintergrunde; in deut-
lichem Lichte nimmt man eher ihr volles Gegentheil wahr, die
unerfreulichen Ergebnisse des herrschenden Rationalismus, eine
kahle Verständigkeit, einen altklugen und nüchternen Sinn, wie
er aus der Geschichtserzählung des Polybius uns matten Auges
entgegenblickt, als die Seelenstimmung des Erzählers selbst und
derer von denen er erzählt. Das war nicht eine Zeit der
Heroën und des Heroismus. Das schwächer und feiner ge-
wordene Geschlecht hängt am Leben. Wie nie zuvor hatte
der Einzelne, bei dem Niedergang des politischen Lebens und
seiner Pflichtforderungen, nun Freiheit, sich selbst zu leben 1).
Und er geniesst seiner Freiheit, seiner Bildung, der Schätze
einer durch allen Schmuck und Reiz einer vollendeten Cultur
bereicherten Innerlichkeit. Alle Vorzeit hat für ihn gedacht
und gearbeitet; nicht müssig, aber ohne Hast beschäftigt, ruht
er aus auf seinem Erbe, im halb verkühlten Sonnenscheine des
lang hinausgesponnenen Herbstes des Griechenthums. Noch
1) τοῖς ἐλευϑέροις ἥκιστα ἔξεστιν ὅ τι ἔτυχε ποιεῖν, ἀλλὰ πάντα ἢ
τὰ πλεῖστα τέτακται. Aristot. Metaph. 1075 a, 19. Diese Art der Frei-
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/606>, abgerufen am 25.11.2024.
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