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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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das ist das Ziel, die Frucht der Philosophie 1). "Reif sein
zum Sterben", ist das Kennzeichen des vollendeten Philosophen.
Ihm ist die Philosophie die Erlöserin, die ihn vom Leibe für
alle Zeit befreit 2), von seinen Begierden, seiner Hast und
wilden Erregung 3), und ihn ganz dem Ewigen und seiner Stille
zurückgiebt.

Rein werden, sich ablösen von dem Uebel, sterben schon
in dieser Zeitlichkeit, das sind die immer wiederholten Mah-
nungen, die der Philosoph an die unsterbliche Seele richtet;
ein durchaus negirendes Verhalten fordert auch hier, ihrem
innersten Wesen entsprechend, die asketische Moral von ihr.
Zwar soll diese Verneinung der Welt nur hinüberleiten zu
höchst positivem Verhalten. Die Katharsis eröffnet nur
den Zugang zur Philosophie selbst, die das allein Positive,
allein unbedingt und in wahrer Bedeutung Seiende, allein in
völlig hellem Verständniss als bleibendes Gut von der Ver-
nunft zu Ergreifende zu erreichen, mit ihm ganz zu verschmel-
zen 4) lehrt. Nach dem Seienden hinüber sehnt sich die Seele
des Denkers 5); der Tod ist ihr nicht nur eine Vernichtung
der Leibesbande, die sie hemmten, sondern sehr positiv "Ge-
winn der Vernunfterkenntniss" 6), auf die sie, ihrem blei-
benden Wesen nach, angelegt ist, also Erfüllung ihrer wahren
Aufgabe. So ist die Abwendung vom Sinnlichen und Ver-
gänglichen zugleich und ohne Uebergang eine Hinwendung zum
Ewigen und Göttlichen. Die Flucht vor dem Diesseits ist in
sich schon ein Ergreifen des Jenseitigen, ein Aehnlichwerden
mit dem Göttlichen 7).

1) Phaed. 64 A ff. 67 E.
2) Phaed. 114 C.
3) tou somatos ptoesis kai mania Cratyl. 404 A.
4) to xuggenei plesiasas kai migeis to onti ontos Rep. 6, 490 B.
5) Die Seele eosa khairein to soma kai kath oson dunatai ou koinonousa
auto oregetai tou ontos. Phaed. 65 C. So sehnt sich die Erscheinung
nach der Idee: oben p. 560, 1.
6) tes phroneseos ktesis Phaed. 65 A ff.
7) peirasthai khre enthende ekeise pheugein oti takhista. phuge de omoio-
sis theo kata to dunaton Theaet. 176 A. B.

das ist das Ziel, die Frucht der Philosophie 1). „Reif sein
zum Sterben“, ist das Kennzeichen des vollendeten Philosophen.
Ihm ist die Philosophie die Erlöserin, die ihn vom Leibe für
alle Zeit befreit 2), von seinen Begierden, seiner Hast und
wilden Erregung 3), und ihn ganz dem Ewigen und seiner Stille
zurückgiebt.

Rein werden, sich ablösen von dem Uebel, sterben schon
in dieser Zeitlichkeit, das sind die immer wiederholten Mah-
nungen, die der Philosoph an die unsterbliche Seele richtet;
ein durchaus negirendes Verhalten fordert auch hier, ihrem
innersten Wesen entsprechend, die asketische Moral von ihr.
Zwar soll diese Verneinung der Welt nur hinüberleiten zu
höchst positivem Verhalten. Die Katharsis eröffnet nur
den Zugang zur Philosophie selbst, die das allein Positive,
allein unbedingt und in wahrer Bedeutung Seiende, allein in
völlig hellem Verständniss als bleibendes Gut von der Ver-
nunft zu Ergreifende zu erreichen, mit ihm ganz zu verschmel-
zen 4) lehrt. Nach dem Seienden hinüber sehnt sich die Seele
des Denkers 5); der Tod ist ihr nicht nur eine Vernichtung
der Leibesbande, die sie hemmten, sondern sehr positiv „Ge-
winn der Vernunfterkenntniss“ 6), auf die sie, ihrem blei-
benden Wesen nach, angelegt ist, also Erfüllung ihrer wahren
Aufgabe. So ist die Abwendung vom Sinnlichen und Ver-
gänglichen zugleich und ohne Uebergang eine Hinwendung zum
Ewigen und Göttlichen. Die Flucht vor dem Diesseits ist in
sich schon ein Ergreifen des Jenseitigen, ein Aehnlichwerden
mit dem Göttlichen 7).

1) Phaed. 64 A ff. 67 E.
2) Phaed. 114 C.
3) τοῦ σώματος πτόησις καὶ μανία Cratyl. 404 A.
4) τῷ ξυγγενεῖ πλησιάσας καὶ μιγεὶς τῷ ὄντι ὄντως Rep. 6, 490 B.
5) Die Seele ἐῶσα χαίρειν τὸ σῶμα καὶ καϑ̕ ὅσον δύναται οὐ κοινωνοῦσα
αὐτῷ ὀρέγεται τοῦ ὄντος. Phaed. 65 C. So sehnt sich die Erscheinung
nach der Idee: oben p. 560, 1.
6) τῆς φρονήσεως κτῆσις Phaed. 65 A ff.
7) πειρᾶσϑαι χρὴ ἐνϑένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίω-
σις ϑεῷ κατὰ τὸ δυνατόν Theaet. 176 A. B.
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[580/0596] das ist das Ziel, die Frucht der Philosophie 1). „Reif sein zum Sterben“, ist das Kennzeichen des vollendeten Philosophen. Ihm ist die Philosophie die Erlöserin, die ihn vom Leibe für alle Zeit befreit 2), von seinen Begierden, seiner Hast und wilden Erregung 3), und ihn ganz dem Ewigen und seiner Stille zurückgiebt. Rein werden, sich ablösen von dem Uebel, sterben schon in dieser Zeitlichkeit, das sind die immer wiederholten Mah- nungen, die der Philosoph an die unsterbliche Seele richtet; ein durchaus negirendes Verhalten fordert auch hier, ihrem innersten Wesen entsprechend, die asketische Moral von ihr. Zwar soll diese Verneinung der Welt nur hinüberleiten zu höchst positivem Verhalten. Die Katharsis eröffnet nur den Zugang zur Philosophie selbst, die das allein Positive, allein unbedingt und in wahrer Bedeutung Seiende, allein in völlig hellem Verständniss als bleibendes Gut von der Ver- nunft zu Ergreifende zu erreichen, mit ihm ganz zu verschmel- zen 4) lehrt. Nach dem Seienden hinüber sehnt sich die Seele des Denkers 5); der Tod ist ihr nicht nur eine Vernichtung der Leibesbande, die sie hemmten, sondern sehr positiv „Ge- winn der Vernunfterkenntniss“ 6), auf die sie, ihrem blei- benden Wesen nach, angelegt ist, also Erfüllung ihrer wahren Aufgabe. So ist die Abwendung vom Sinnlichen und Ver- gänglichen zugleich und ohne Uebergang eine Hinwendung zum Ewigen und Göttlichen. Die Flucht vor dem Diesseits ist in sich schon ein Ergreifen des Jenseitigen, ein Aehnlichwerden mit dem Göttlichen 7). 1) Phaed. 64 A ff. 67 E. 2) Phaed. 114 C. 3) τοῦ σώματος πτόησις καὶ μανία Cratyl. 404 A. 4) τῷ ξυγγενεῖ πλησιάσας καὶ μιγεὶς τῷ ὄντι ὄντως Rep. 6, 490 B. 5) Die Seele ἐῶσα χαίρειν τὸ σῶμα καὶ καϑ̕ ὅσον δύναται οὐ κοινωνοῦσα αὐτῷ ὀρέγεται τοῦ ὄντος. Phaed. 65 C. So sehnt sich die Erscheinung nach der Idee: oben p. 560, 1. 6) τῆς φρονήσεως κτῆσις Phaed. 65 A ff. 7) πειρᾶσϑαι χρὴ ἐνϑένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίω- σις ϑεῷ κατὰ τὸ δυνατόν Theaet. 176 A. B.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/596>, abgerufen am 27.11.2024.