findet man neben dem "Zwerchfell", mit ihm oft in engster Vereinigung genannt den thumos, dessen Name, von keinem Körpertheil hergenommen, schon eine rein geistige Function bezeichnet. So bezeichnen mancherlei andere Worte (noos, -- noein, noema -- boule, menos, metis) Fähigkeiten und Thätigkeiten des Wollens, des Sinnes und Sinnens mit Namen, die deren frei und körperlos wirkende Art anerkennen. Der Dichter hängt noch mit Einem Faden an der Anschauungsweise und Aus- drucksweise der Vorzeit, aber schon ist er in das Reich rein geistiger Vorgänge entdeckend weit vorgedrungen. Während bei geringer ausgerüsteten Völkern die Wahrnehmung der ein- zelnen Functionen des Willens und Intellects nur dazu führt, diese Functionen in der Vorstellung zu eigenen körperhaften Wesen zu verdichten, und so dem schattenhaften Doppelgänger des Menschen, seinem andern Ich, noch weitere "Seelen" in Gestalt etwa des Gewissens, des Willens zu gesellen 1), bewegt sich die Auffassung der homerischen Sänger bereits in ent- gegengesetzter Richtung: die Mythologie des innern Menschen schwindet zusammen. Sie hätten nur wenig auf dem gleichen Wege weiter gehen dürfen, um auch die Psyche entbehr- lich zu finden. Der Glaube an die Psyche war die älteste Urhypothese, durch die man die Erscheinungen des Traumes, der Ohnmacht, der ekstatischen Vision vermittelst der Annahme eines besonderen körperhaften Acteurs in diesen dunklen Hand- lungen erklärte. Homer hat für das Ahnungsvolle und gar das Ekstatische wenig Interesse und gar keine eigene Neigung, er kann also die Beweise für das Dasein der Psyche im leben- digen Menschen sich nicht oft einleuchtend gemacht haben.
1) Der Glaube an mehrere Seelen im einzelnen Menschen ist sehr verbreitet. Vgl. J. G. Müller, Amerikan. Urrelig. 66. 207 f. Tylor, Pri- mit. Cult. I 392 f. Im Grunde kommt auch die Unterscheidung der fünf, im Menschen wohnenden seelischen Kräfte im Avesta (vgl. Geiger, Ostiran. Cultur 298 ff.) auf dasselbe hinaus. -- Aus vergröberndem Miss- verständniss Platonischer Lehre geräth völlig in die Wege ältester Volks- psychologie Claudian, wenn er, IV. cons. Honor. 228--237, dem Menschen drei "Seelen" zuschreibt.
findet man neben dem „Zwerchfell“, mit ihm oft in engster Vereinigung genannt den ϑυμός, dessen Name, von keinem Körpertheil hergenommen, schon eine rein geistige Function bezeichnet. So bezeichnen mancherlei andere Worte (νόος, — νοεῖν, νόημα — βουλή, μένος, μῆτις) Fähigkeiten und Thätigkeiten des Wollens, des Sinnes und Sinnens mit Namen, die deren frei und körperlos wirkende Art anerkennen. Der Dichter hängt noch mit Einem Faden an der Anschauungsweise und Aus- drucksweise der Vorzeit, aber schon ist er in das Reich rein geistiger Vorgänge entdeckend weit vorgedrungen. Während bei geringer ausgerüsteten Völkern die Wahrnehmung der ein- zelnen Functionen des Willens und Intellects nur dazu führt, diese Functionen in der Vorstellung zu eigenen körperhaften Wesen zu verdichten, und so dem schattenhaften Doppelgänger des Menschen, seinem andern Ich, noch weitere „Seelen“ in Gestalt etwa des Gewissens, des Willens zu gesellen 1), bewegt sich die Auffassung der homerischen Sänger bereits in ent- gegengesetzter Richtung: die Mythologie des innern Menschen schwindet zusammen. Sie hätten nur wenig auf dem gleichen Wege weiter gehen dürfen, um auch die Psyche entbehr- lich zu finden. Der Glaube an die Psyche war die älteste Urhypothese, durch die man die Erscheinungen des Traumes, der Ohnmacht, der ekstatischen Vision vermittelst der Annahme eines besonderen körperhaften Acteurs in diesen dunklen Hand- lungen erklärte. Homer hat für das Ahnungsvolle und gar das Ekstatische wenig Interesse und gar keine eigene Neigung, er kann also die Beweise für das Dasein der Psyche im leben- digen Menschen sich nicht oft einleuchtend gemacht haben.
1) Der Glaube an mehrere Seelen im einzelnen Menschen ist sehr verbreitet. Vgl. J. G. Müller, Amerikan. Urrelig. 66. 207 f. Tylor, Pri- mit. Cult. I 392 f. Im Grunde kommt auch die Unterscheidung der fünf, im Menschen wohnenden seelischen Kräfte im Avesta (vgl. Geiger, Ostiran. Cultur 298 ff.) auf dasselbe hinaus. — Aus vergröberndem Miss- verständniss Platonischer Lehre geräth völlig in die Wege ältester Volks- psychologie Claudian, wenn er, IV. cons. Honor. 228—237, dem Menschen drei „Seelen“ zuschreibt.
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findet man neben dem „Zwerchfell“, mit ihm oft in engster
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bezeichnet. So bezeichnen mancherlei andere Worte (νόος, —
νοεῖν, νόημα — βουλή, μένος, μῆτις) Fähigkeiten und Thätigkeiten
des Wollens, des Sinnes und Sinnens mit Namen, die deren frei
und körperlos wirkende Art anerkennen. Der Dichter hängt
noch mit Einem Faden an der Anschauungsweise und Aus-
drucksweise der Vorzeit, aber schon ist er in das Reich rein
geistiger Vorgänge entdeckend weit vorgedrungen. Während
bei geringer ausgerüsteten Völkern die Wahrnehmung der ein-
zelnen Functionen des Willens und Intellects nur dazu führt,
diese Functionen in der Vorstellung zu eigenen körperhaften
Wesen zu verdichten, und so dem schattenhaften Doppelgänger
des Menschen, seinem andern Ich, noch weitere „Seelen“ in
Gestalt etwa des Gewissens, des Willens zu gesellen 1), bewegt
sich die Auffassung der homerischen Sänger bereits in ent-
gegengesetzter Richtung: die Mythologie des innern Menschen
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Wege weiter gehen dürfen, um auch die Psyche entbehr-
lich zu finden. Der Glaube an die Psyche war die älteste
Urhypothese, durch die man die Erscheinungen des Traumes,
der Ohnmacht, der ekstatischen Vision vermittelst der Annahme
eines besonderen körperhaften Acteurs in diesen dunklen Hand-
lungen erklärte. Homer hat für das Ahnungsvolle und gar
das Ekstatische wenig Interesse und gar keine eigene Neigung,
er kann also die Beweise für das Dasein der Psyche im leben-
digen Menschen sich nicht oft einleuchtend gemacht haben.
1) Der Glaube an mehrere Seelen im einzelnen Menschen ist sehr
verbreitet. Vgl. J. G. Müller, Amerikan. Urrelig. 66. 207 f. Tylor, Pri-
mit. Cult. I 392 f. Im Grunde kommt auch die Unterscheidung der
fünf, im Menschen wohnenden seelischen Kräfte im Avesta (vgl. Geiger,
Ostiran. Cultur 298 ff.) auf dasselbe hinaus. — Aus vergröberndem Miss-
verständniss Platonischer Lehre geräth völlig in die Wege ältester Volks-
psychologie Claudian, wenn er, IV. cons. Honor. 228—237, dem Menschen
drei „Seelen“ zuschreibt.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/58>, abgerufen am 24.11.2024.
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