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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Vergehenden, wie ein höchstes Ziel, ein oberster Zweck über
jenem schwebend, das ihm zustrebt, nach der vollen un-
bedingten Fülle des Seins sich emporsehnt 1). Nicht in dem
Flusse der Erscheinungen, ausserhalb dessen es sich erhält,
ist dieses ewige Sein zu ergreifen; nicht der trügerischen, un-
stät wechselnden Wahrnehmung der Sinne stellt es sich dar,
noch der "Meinung", die sich auf ihr begründet; einzig von
der Vernunfterkenntniss, ohne alle Mitwirkung der Sinne,
kann es erfasst werden 2). Ausserhalb des Denkens und Wis-
sens der Seele besteht diese Welt ewig gleich sich bleibender
Wesenheiten; aber sie entdeckt sich dem Menschen doch erst
in der Thätigkeit seines Denkens 3), und zugleich entdeckt sich
ihm eine höchste Kraft seiner Seele, das Vermögen, nicht nur
wesenlose Allgemeinbegriffe aus der Vielheit der Erscheinungen
bei sich abstrahirend zu bilden, sondern über alle Erfahrung
hinaus mit unfehlbarem Wissen 4) in ein jenseitiges Reich blei-
benden, allerrealsten Seins selbständig sich aufzuschwingen. Die
höchste Kraft des Menschen, die Seele seiner Seele, ist nicht
eingeschlossen in diese Welt, die unstät die Sinne umfluthet.
Wie die letzten Ziele ihrer Betrachtung ist die Seele selbst

1) Die Erscheinung bouletai, oregetai, prothumeitai einai was ihre Idee
ist. Phaedon. 74 D; 75 A; 75 B. Die Ideen als Zweckursachen, wie der
göttliche nous des Aristoteles, der selbst unbewegt kinei os eromenon (wie
der Stoff ein Verlangen nach der Form, das Mögliche nach dem Wirk-
lichen hat). Festgehalten hat freilich Plato diese Weise, den Zusammen-
hang zwischen Erscheinung und unbewegter Idee zu verdeutlichen mehr
als zu erklären, nicht.
2) noesei meta logou perilepton Tim. 27 D. ou oupot an allo epi-
laboio e to tes dianoias logismo Phaedon 79 A. aute di autes e psukhe
ta koina phainetai peri panton episkopein Theaet. 185 D.
3) Das prius ist dem Menschen eigentlich die Wahrnehmung seiner
eigenen Geistesthätigkeit in der noesis meta logou als einem von der doxa
met aistheseos alogou wesentlich verschiedenen Verhalten, und erst von
hier aus führt ein Schluss zu der Annahme des Seins der nooumena. Tim.
51 B--52 A. Die Idee ist es, die wir im Begriff ergreifen, aute e ousia
es logon didomen kai erotontes kai apokrinomenoi (Phaedon 78 D).
4) Die episteme, welche allein die dialektie giebt (Rep. 7, 533. D. E)
ist anamartetos. Rep. 5, 477 E.

Vergehenden, wie ein höchstes Ziel, ein oberster Zweck über
jenem schwebend, das ihm zustrebt, nach der vollen un-
bedingten Fülle des Seins sich emporsehnt 1). Nicht in dem
Flusse der Erscheinungen, ausserhalb dessen es sich erhält,
ist dieses ewige Sein zu ergreifen; nicht der trügerischen, un-
stät wechselnden Wahrnehmung der Sinne stellt es sich dar,
noch der „Meinung“, die sich auf ihr begründet; einzig von
der Vernunfterkenntniss, ohne alle Mitwirkung der Sinne,
kann es erfasst werden 2). Ausserhalb des Denkens und Wis-
sens der Seele besteht diese Welt ewig gleich sich bleibender
Wesenheiten; aber sie entdeckt sich dem Menschen doch erst
in der Thätigkeit seines Denkens 3), und zugleich entdeckt sich
ihm eine höchste Kraft seiner Seele, das Vermögen, nicht nur
wesenlose Allgemeinbegriffe aus der Vielheit der Erscheinungen
bei sich abstrahirend zu bilden, sondern über alle Erfahrung
hinaus mit unfehlbarem Wissen 4) in ein jenseitiges Reich blei-
benden, allerrealsten Seins selbständig sich aufzuschwingen. Die
höchste Kraft des Menschen, die Seele seiner Seele, ist nicht
eingeschlossen in diese Welt, die unstät die Sinne umfluthet.
Wie die letzten Ziele ihrer Betrachtung ist die Seele selbst

1) Die Erscheinung βούλεται, ὀρέγεται, προϑυμεῖται εἶναι was ihre Idee
ist. Phaedon. 74 D; 75 A; 75 B. Die Ideen als Zweckursachen, wie der
göttliche νοῦς des Aristoteles, der selbst unbewegt κινεῖ ὡς ἐρώμενον (wie
der Stoff ein Verlangen nach der Form, das Mögliche nach dem Wirk-
lichen hat). Festgehalten hat freilich Plato diese Weise, den Zusammen-
hang zwischen Erscheinung und unbewegter Idee zu verdeutlichen mehr
als zu erklären, nicht.
2) νοήσει μετὰ λόγου περιληπτόν Tim. 27 D. οὗ οὔποτ̕ ἂν ἄλλῳ ἐπι-
λάβοιο ἢ τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ Phaedon 79 A. αὐτὴ δἰ αὑτῆς ἡ ψυχὴ
τὰ κοινὰ φαίνεται περὶ πάντων ἐπισκοπεῖν Theaet. 185 D.
3) Das prius ist dem Menschen eigentlich die Wahrnehmung seiner
eigenen Geistesthätigkeit in der νόησις μετὰ λόγου als einem von der δόξα
μετ̕ αἰσϑήσεως ἀλόγου wesentlich verschiedenen Verhalten, und erst von
hier aus führt ein Schluss zu der Annahme des Seins der νοούμενα. Tim.
51 B—52 A. Die Idee ist es, die wir im Begriff ergreifen, αὐτὴ ἡ οὐσία
ἧς λὁγον δίδομεν καὶ ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι (Phaedon 78 D).
4) Die ἐπιστήμη, welche allein die διαλεκτιή giebt (Rep. 7, 533. D. E)
ist ἀναμάρτητος. Rep. 5, 477 E.
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[560/0576] Vergehenden, wie ein höchstes Ziel, ein oberster Zweck über jenem schwebend, das ihm zustrebt, nach der vollen un- bedingten Fülle des Seins sich emporsehnt 1). Nicht in dem Flusse der Erscheinungen, ausserhalb dessen es sich erhält, ist dieses ewige Sein zu ergreifen; nicht der trügerischen, un- stät wechselnden Wahrnehmung der Sinne stellt es sich dar, noch der „Meinung“, die sich auf ihr begründet; einzig von der Vernunfterkenntniss, ohne alle Mitwirkung der Sinne, kann es erfasst werden 2). Ausserhalb des Denkens und Wis- sens der Seele besteht diese Welt ewig gleich sich bleibender Wesenheiten; aber sie entdeckt sich dem Menschen doch erst in der Thätigkeit seines Denkens 3), und zugleich entdeckt sich ihm eine höchste Kraft seiner Seele, das Vermögen, nicht nur wesenlose Allgemeinbegriffe aus der Vielheit der Erscheinungen bei sich abstrahirend zu bilden, sondern über alle Erfahrung hinaus mit unfehlbarem Wissen 4) in ein jenseitiges Reich blei- benden, allerrealsten Seins selbständig sich aufzuschwingen. Die höchste Kraft des Menschen, die Seele seiner Seele, ist nicht eingeschlossen in diese Welt, die unstät die Sinne umfluthet. Wie die letzten Ziele ihrer Betrachtung ist die Seele selbst 1) Die Erscheinung βούλεται, ὀρέγεται, προϑυμεῖται εἶναι was ihre Idee ist. Phaedon. 74 D; 75 A; 75 B. Die Ideen als Zweckursachen, wie der göttliche νοῦς des Aristoteles, der selbst unbewegt κινεῖ ὡς ἐρώμενον (wie der Stoff ein Verlangen nach der Form, das Mögliche nach dem Wirk- lichen hat). Festgehalten hat freilich Plato diese Weise, den Zusammen- hang zwischen Erscheinung und unbewegter Idee zu verdeutlichen mehr als zu erklären, nicht. 2) νοήσει μετὰ λόγου περιληπτόν Tim. 27 D. οὗ οὔποτ̕ ἂν ἄλλῳ ἐπι- λάβοιο ἢ τῷ τῆς διανοίας λογισμῷ Phaedon 79 A. αὐτὴ δἰ αὑτῆς ἡ ψυχὴ τὰ κοινὰ φαίνεται περὶ πάντων ἐπισκοπεῖν Theaet. 185 D. 3) Das prius ist dem Menschen eigentlich die Wahrnehmung seiner eigenen Geistesthätigkeit in der νόησις μετὰ λόγου als einem von der δόξα μετ̕ αἰσϑήσεως ἀλόγου wesentlich verschiedenen Verhalten, und erst von hier aus führt ein Schluss zu der Annahme des Seins der νοούμενα. Tim. 51 B—52 A. Die Idee ist es, die wir im Begriff ergreifen, αὐτὴ ἡ οὐσία ἧς λὁγον δίδομεν καὶ ἐρωτῶντες καὶ ἀποκρινόμενοι (Phaedon 78 D). 4) Die ἐπιστήμη, welche allein die διαλεκτιή giebt (Rep. 7, 533. D. E) ist ἀναμάρτητος. Rep. 5, 477 E.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/576>, abgerufen am 24.11.2024.