Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.Ersatz, sie geben ihm höchstens flüchtige Anregung. Zwar Glaubens übereinkommen, zumeist annehmen darf, dass im Augenblick solche Glaubensäusserungen die Ansicht des subjectivsten der Tragiker wiedergeben. So ist z. B. unverkennbar, dass der fromme Klang, der die Hiketiden ganz durchzieht (Unterwerfung der phronesis unter Gottes Weis- heit: 218 ff., Hingebung an die Leitung der Götter: 595 ff., an Zeus' Weltregierung: 737 ff.), und sich besonders in der Ausmalung des Theseus als Muster der eusebeia gefällt, der thatsächlichen Stimmung des Dichters (der von sich selbst offenbar redet V. 182--185) in jenem Zeitpunkt ent- spricht. Und auch sonst hat er vielfach, nur (ausser in den Bakchen) meistens auf kurze Zeit, Velleitäten der Altgläubigkeit. 1) Alc. 968 ff.; Hippol. 949 ff. -- Askese der Mysten des Zeus und des Zagreus, der Bergmutter und der Kureten: Kretes, fr. 472. 2) Polyid., fr. 638, Phrixos, fr. 833. Man meint hier meistens (z. B. Bergk, Gr. Litt. 3, 475, 33) einen Anklang an Heraklit zu vernehmen. Aber dessen: athanatoi thnetoi, thnetoi athanatoi, zontes ton ekeinon thana- ton, ton de ekeinon bion tethneotes (fr. 67) spricht ja deutlich aus, dass "Tod" und "Leben" überhaupt relative Begriffe seien, Tod (des Einen, des Feuers) und Leben (des Andern, des Wassers, der Erde) gleichzeitig an demselben Object statthaben (s. fr. 68. 78). Darnach wäre, absolut gesprochen, das Leben auf Erden nicht mehr Leben als Tod: das will ja aber Euripides jedenfalls nicht sagen. Nur missdeutend geben Philo, Sextus Empir. dem Heraklit die orphische Lehre vom "Tode" der Seele, wenn sie in das soma als ihr sema eingeschlossen werde (s. oben p. 442, 2). Diese orphische Lehre aber ist es, die dem Euripides vorschwebt (wie sie denn bei Plato, Gorg. 492 E, 493 A in unmittelbaren Zusammenhang mit jenen Versen des Eur. gebracht wird): in ihr ist wirklich von einem "Tode" der Seele im Leibesleben und ihrer Befreiung zu wahrem (nicht nur relativem) Leben nach dem Tode die Rede, das "Leben" ist ihr nur ein missbräuchlich mit so auszeichnendem Namen benanntes (o de bioton kaleousi Emped. 117). Rohde, Seelencult. 35
Ersatz, sie geben ihm höchstens flüchtige Anregung. Zwar Glaubens übereinkommen, zumeist annehmen darf, dass im Augenblick solche Glaubensäusserungen die Ansicht des subjectivsten der Tragiker wiedergeben. So ist z. B. unverkennbar, dass der fromme Klang, der die Hiketiden ganz durchzieht (Unterwerfung der φρόνησις unter Gottes Weis- heit: 218 ff., Hingebung an die Leitung der Götter: 595 ff., an Zeus’ Weltregierung: 737 ff.), und sich besonders in der Ausmalung des Theseus als Muster der εὐσέβεια gefällt, der thatsächlichen Stimmung des Dichters (der von sich selbst offenbar redet V. 182—185) in jenem Zeitpunkt ent- spricht. Und auch sonst hat er vielfach, nur (ausser in den Bakchen) meistens auf kurze Zeit, Velleitäten der Altgläubigkeit. 1) Alc. 968 ff.; Hippol. 949 ff. — Askese der Mysten des Zeus und des Zagreus, der Bergmutter und der Kureten: Κρῆτες, fr. 472. 2) Polyid., fr. 638, Phrixos, fr. 833. Man meint hier meistens (z. B. Bergk, Gr. Litt. 3, 475, 33) einen Anklang an Heraklit zu vernehmen. Aber dessen: ἀϑάνατοι ϑνητοί, ϑνητοὶ ἀϑάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων ϑάνα- τον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεϑνεῶτες (fr. 67) spricht ja deutlich aus, dass „Tod“ und „Leben“ überhaupt relative Begriffe seien, Tod (des Einen, des Feuers) und Leben (des Andern, des Wassers, der Erde) gleichzeitig an demselben Object statthaben (s. fr. 68. 78). Darnach wäre, absolut gesprochen, das Leben auf Erden nicht mehr Leben als Tod: das will ja aber Euripides jedenfalls nicht sagen. Nur missdeutend geben Philo, Sextus Empir. dem Heraklit die orphische Lehre vom „Tode“ der Seele, wenn sie in das σῶμα als ihr σῆμα eingeschlossen werde (s. oben p. 442, 2). Diese orphische Lehre aber ist es, die dem Euripides vorschwebt (wie sie denn bei Plato, Gorg. 492 E, 493 A in unmittelbaren Zusammenhang mit jenen Versen des Eur. gebracht wird): in ihr ist wirklich von einem „Tode“ der Seele im Leibesleben und ihrer Befreiung zu wahrem (nicht nur relativem) Leben nach dem Tode die Rede, das „Leben“ ist ihr nur ein missbräuchlich mit so auszeichnendem Namen benanntes (ὅ δὴ βίοτον καλέουσι Emped. 117). Rohde, Seelencult. 35
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Ersatz, sie geben ihm höchstens flüchtige Anregung. Zwar
seiner Aufmerksamkeit waren auch diese Erscheinungen des
geistigen Lebens der Zeit nicht entgangen. Es finden sich
Anspielungen auf orphische Dichtung, auf die Askese der Or-
phiker, die er der spröden Tugend seines Hippolytos leiht 1).
Der Gedanke, dass die Seele aus einem höheren Dasein herab-
gesunken, in diesem Leibe eingeschlossen sei wie der Todte im
Sarge, nimmt einen Augenblick seine Phantasie gefangen.
„Wer weiss denn, ob das Leben nicht ein Sterben ist“, und
im Tode die Seele zu ihrem wahren Leben erwache? 2) Die
trübe Ansicht vom Menschenschicksal in diesem irdischen Leben,
4)
1) Alc. 968 ff.; Hippol. 949 ff. — Askese der Mysten des Zeus und
des Zagreus, der Bergmutter und der Kureten: Κρῆτες, fr. 472.
2) Polyid., fr. 638, Phrixos, fr. 833. Man meint hier meistens (z. B.
Bergk, Gr. Litt. 3, 475, 33) einen Anklang an Heraklit zu vernehmen.
Aber dessen: ἀϑάνατοι ϑνητοί, ϑνητοὶ ἀϑάνατοι, ζῶντες τὸν ἐκείνων ϑάνα-
τον, τὸν δὲ ἐκείνων βίον τεϑνεῶτες (fr. 67) spricht ja deutlich aus, dass
„Tod“ und „Leben“ überhaupt relative Begriffe seien, Tod (des Einen,
des Feuers) und Leben (des Andern, des Wassers, der Erde) gleichzeitig
an demselben Object statthaben (s. fr. 68. 78). Darnach wäre, absolut
gesprochen, das Leben auf Erden nicht mehr Leben als Tod: das will
ja aber Euripides jedenfalls nicht sagen. Nur missdeutend geben Philo,
Sextus Empir. dem Heraklit die orphische Lehre vom „Tode“ der Seele,
wenn sie in das σῶμα als ihr σῆμα eingeschlossen werde (s. oben p. 442, 2).
Diese orphische Lehre aber ist es, die dem Euripides vorschwebt (wie sie
denn bei Plato, Gorg. 492 E, 493 A in unmittelbaren Zusammenhang mit
jenen Versen des Eur. gebracht wird): in ihr ist wirklich von einem „Tode“
der Seele im Leibesleben und ihrer Befreiung zu wahrem (nicht nur
relativem) Leben nach dem Tode die Rede, das „Leben“ ist ihr nur ein
missbräuchlich mit so auszeichnendem Namen benanntes (ὅ δὴ βίοτον
καλέουσι Emped. 117).
4) Glaubens übereinkommen, zumeist annehmen darf, dass im Augenblick
solche Glaubensäusserungen die Ansicht des subjectivsten der Tragiker
wiedergeben. So ist z. B. unverkennbar, dass der fromme Klang, der die
Hiketiden ganz durchzieht (Unterwerfung der φρόνησις unter Gottes Weis-
heit: 218 ff., Hingebung an die Leitung der Götter: 595 ff., an Zeus’
Weltregierung: 737 ff.), und sich besonders in der Ausmalung des Theseus
als Muster der εὐσέβεια gefällt, der thatsächlichen Stimmung des Dichters
(der von sich selbst offenbar redet V. 182—185) in jenem Zeitpunkt ent-
spricht. Und auch sonst hat er vielfach, nur (ausser in den Bakchen)
meistens auf kurze Zeit, Velleitäten der Altgläubigkeit.
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