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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Männer die, in bewusstem Gegensatz zu neueren Gedanken-
richtungen, die alten Grundsätze des philosophischen Monis-
mus und Hylozoismus aufrecht erhielten, Diogenes aus Apol-
lonia, auch Hippon von Samos, oder eine Vermittelung alter
und neuer ionischer Lehre versuchten, wie Archelaos. Dann
wurde für die Wanderlehrer neuester Weisheit, die Sophisten,
Athen ein Hauptquartier. Nirgends fand die Kühnheit un-
beschränkter Discussion kunstgerechteres Verständniss als
hier, nirgends so begierige Aufnahme das dialektische Spiel,
das sich selbst Zweck zu sein schien, und doch aller eigenen
athenischen Philosophie fruchtbarster Nährboden werden sollte.
Alle Ueberlieferung in Glauben und Sitte, nicht aus der Re-
flexion geboren und nicht aus ihr zu rechtfertigen, war schon
verloren, sobald sie, wie alles herkömmlich Feststehende in
Welt und Leben, der kalte Blick dieser selbstherrlichen Dia-
lektik des Schutzes selbstverständlicher Giltigkeit entkleidete.
Und wie nun die Sophisten, diese Plänkler einer neuen, noch
unerkennbaren Philosophie, auch die alten Truppen positiver
philosophischer Lehren zerstreut und zurückgeworfen hatten,
so boten sie dem Einzelnen, den sie ganz auf seine eigene
Einsicht anwiesen, zwar Anregungen zum Nachdenken in Fülle,
aber nichts in dem Hin und Her der Meinungen Standhalten-
des. Es würde sich doch nur aus dem obersten Grundsatze
der Grundsatzlosigkeit rechtfertigen, wenn vielleicht diese So-
phistik auch einmal erbaulich reden und z. B. einzelnen Sätzen
einer positiveren Lehre vom Wesen und Leben der Seele den
Schutz ihrer Wohlredenheit hätte leihen wollen 1).

1) Dem Prodikos giebt Welcker, Kl. Schr. 2, 497 ff. den grössten
Theil der in dem Pseudoplatonischen Axiokhos ausgeführten Betrachtungen
über athanasia tes psukhes (370 B ff.), den Zug der Seele nach dem himm-
lischen aither (366 A), sogar die Platonisirende Phantasie über das
Loos der Abgeschiedenen cap. 12 ff. Prodikos würde mit solchen Aus-
führungen weniger "ein Vorgänger des Sokrates" (wie ihn W. nennt)
gewesen sein als ein Vorgänger des Plato. Aber in Wahrheit besteht
gar kein Grund, ihm aus dem lose zusammengefügten Conglomerat her-
kömmlicher Bestandtheile der logoi paramuthetikoi, welches die kleine,

Männer die, in bewusstem Gegensatz zu neueren Gedanken-
richtungen, die alten Grundsätze des philosophischen Monis-
mus und Hylozoismus aufrecht erhielten, Diogenes aus Apol-
lonia, auch Hippon von Samos, oder eine Vermittelung alter
und neuer ionischer Lehre versuchten, wie Archelaos. Dann
wurde für die Wanderlehrer neuester Weisheit, die Sophisten,
Athen ein Hauptquartier. Nirgends fand die Kühnheit un-
beschränkter Discussion kunstgerechteres Verständniss als
hier, nirgends so begierige Aufnahme das dialektische Spiel,
das sich selbst Zweck zu sein schien, und doch aller eigenen
athenischen Philosophie fruchtbarster Nährboden werden sollte.
Alle Ueberlieferung in Glauben und Sitte, nicht aus der Re-
flexion geboren und nicht aus ihr zu rechtfertigen, war schon
verloren, sobald sie, wie alles herkömmlich Feststehende in
Welt und Leben, der kalte Blick dieser selbstherrlichen Dia-
lektik des Schutzes selbstverständlicher Giltigkeit entkleidete.
Und wie nun die Sophisten, diese Plänkler einer neuen, noch
unerkennbaren Philosophie, auch die alten Truppen positiver
philosophischer Lehren zerstreut und zurückgeworfen hatten,
so boten sie dem Einzelnen, den sie ganz auf seine eigene
Einsicht anwiesen, zwar Anregungen zum Nachdenken in Fülle,
aber nichts in dem Hin und Her der Meinungen Standhalten-
des. Es würde sich doch nur aus dem obersten Grundsatze
der Grundsatzlosigkeit rechtfertigen, wenn vielleicht diese So-
phistik auch einmal erbaulich reden und z. B. einzelnen Sätzen
einer positiveren Lehre vom Wesen und Leben der Seele den
Schutz ihrer Wohlredenheit hätte leihen wollen 1).

1) Dem Prodikos giebt Welcker, Kl. Schr. 2, 497 ff. den grössten
Theil der in dem Pseudoplatonischen Ἀξίοχος ausgeführten Betrachtungen
über ἀϑανασία τῆς ψυχῆς (370 B ff.), den Zug der Seele nach dem himm-
lischen αἰϑήρ (366 A), sogar die Platonisirende Phantasie über das
Loos der Abgeschiedenen cap. 12 ff. Prodikos würde mit solchen Aus-
führungen weniger „ein Vorgänger des Sokrates“ (wie ihn W. nennt)
gewesen sein als ein Vorgänger des Plato. Aber in Wahrheit besteht
gar kein Grund, ihm aus dem lose zusammengefügten Conglomerat her-
kömmlicher Bestandtheile der λόγοι παραμυϑητικοί, welches die kleine,
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[538/0554] Männer die, in bewusstem Gegensatz zu neueren Gedanken- richtungen, die alten Grundsätze des philosophischen Monis- mus und Hylozoismus aufrecht erhielten, Diogenes aus Apol- lonia, auch Hippon von Samos, oder eine Vermittelung alter und neuer ionischer Lehre versuchten, wie Archelaos. Dann wurde für die Wanderlehrer neuester Weisheit, die Sophisten, Athen ein Hauptquartier. Nirgends fand die Kühnheit un- beschränkter Discussion kunstgerechteres Verständniss als hier, nirgends so begierige Aufnahme das dialektische Spiel, das sich selbst Zweck zu sein schien, und doch aller eigenen athenischen Philosophie fruchtbarster Nährboden werden sollte. Alle Ueberlieferung in Glauben und Sitte, nicht aus der Re- flexion geboren und nicht aus ihr zu rechtfertigen, war schon verloren, sobald sie, wie alles herkömmlich Feststehende in Welt und Leben, der kalte Blick dieser selbstherrlichen Dia- lektik des Schutzes selbstverständlicher Giltigkeit entkleidete. Und wie nun die Sophisten, diese Plänkler einer neuen, noch unerkennbaren Philosophie, auch die alten Truppen positiver philosophischer Lehren zerstreut und zurückgeworfen hatten, so boten sie dem Einzelnen, den sie ganz auf seine eigene Einsicht anwiesen, zwar Anregungen zum Nachdenken in Fülle, aber nichts in dem Hin und Her der Meinungen Standhalten- des. Es würde sich doch nur aus dem obersten Grundsatze der Grundsatzlosigkeit rechtfertigen, wenn vielleicht diese So- phistik auch einmal erbaulich reden und z. B. einzelnen Sätzen einer positiveren Lehre vom Wesen und Leben der Seele den Schutz ihrer Wohlredenheit hätte leihen wollen 1). 1) Dem Prodikos giebt Welcker, Kl. Schr. 2, 497 ff. den grössten Theil der in dem Pseudoplatonischen Ἀξίοχος ausgeführten Betrachtungen über ἀϑανασία τῆς ψυχῆς (370 B ff.), den Zug der Seele nach dem himm- lischen αἰϑήρ (366 A), sogar die Platonisirende Phantasie über das Loos der Abgeschiedenen cap. 12 ff. Prodikos würde mit solchen Aus- führungen weniger „ein Vorgänger des Sokrates“ (wie ihn W. nennt) gewesen sein als ein Vorgänger des Plato. Aber in Wahrheit besteht gar kein Grund, ihm aus dem lose zusammengefügten Conglomerat her- kömmlicher Bestandtheile der λόγοι παραμυϑητικοί, welches die kleine,

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/554>, abgerufen am 23.11.2024.