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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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rachgierig, starr und eigensüchtig, durch sein Unglück nicht
geläutert, sondern verwildert 1). Dennoch erhöht ihn die Gott-
heit zum ewig lebendigen Heros, minder fast ihm selbst zu
seliger Genugthuung als zum Heil des attischen Landes, des
Landes der Menschlichkeit, das den Unglücklichen schützt und
aufnimmt 2), und für immer seine Segenskraft festhalten wird 3).
Wie es einst der Gottheit gefallen hat, den Schuldlosen in
Frevel und Leiden zu verstricken, so gefällt es ihr nun, den
Leidgeschlagenen, ohne neues und hohes Verdienst von seiner
Seite, zu übermenschlichem Glückesloose zu erhöhen 4). An
ihm geschieht ein göttliches Wunder, dessen innerer Veran-
anlassung nachzuforschen nicht frommt.

so nachdrücklich hervorgehoben, damit seine Erhöhung zum Heros
nicht einen Schuldbeladenen getroffen zu haben scheine. Aber positive
Tugenden leiht ihm der Dichter im Oed. Col. nicht, weit weniger als im
Oed. Tyr.
1) Man braucht nur unbefangen das Stück zu lesen, um zu sehn,
dass dieser wilde zornige mitleidlose, den Söhnen gräulich fluchende, der
Vaterstadt Unglück rachgierig vorausgeniessende Greis nichts hat von dem
"tiefen Gottesfrieden", der "Verklärung des frommen Dulders", welche die
herkömmliche Litterarexegese zumeist bei ihm wahrnehmen möchte. Der
Dichter, nicht gewohnt, mit faden Beschwichtigungsphrasen sich die Wirk-
lichkeit des Lebens zu verhängen, hat deutlich wahrgenommen, wie Un-
glück und Noth den Menschen nicht zu "verklären" sondern herabzu-
drücken und unedel zu machen pflegen. Fromm ist sein Oedipus (er war
es von jeher, auch im O. R.), aber verwildert, egriotai ganz wie Philoktet
(Phil. 1321) in seinem Elend.
2) Humanität Athens und seines Königs: 562 ff.; 1125 ff.
3) Immer wieder wird es hervorgehoben, dass die Ansiedlung des
Oedipus unter attischem Boden den Athenern zum Heile, den Thebanern
zum Nachtheil gereichen solle (so hat es Apolls Orakel bestimmt): 92 f;
287 f.; 402; 409 ff.; 576 ff.; 621 ff. Der kostbare Besitz soll daher ver-
heimlicht werden (wie so oft Heroengräber: s. oben p. 152): 1520 ff.
Diese Erhöhung des Oedipus zum soter für Attika (459 f.) ist dem Dichter
offenbar das, was dem ganzen Mysterium, das er aufführen lässt, Sinn
und Wichtigkeit giebt.
4) nun gar theoi s orthousi, prosthe d ollusan. 394. Jetzt tragen die
Götter oran tina für Oedipus (385). Nach vielen pemata palin sphe daimon
dikaios auxoi (an) 1565 f. Also Wohlthat nach langer Misshandlung; Ab-
wechslung, aber keine mit Recht in Anspruch zu nehmende Belohnung
oder Entschädigung. Alles ist Gnade.

rachgierig, starr und eigensüchtig, durch sein Unglück nicht
geläutert, sondern verwildert 1). Dennoch erhöht ihn die Gott-
heit zum ewig lebendigen Heros, minder fast ihm selbst zu
seliger Genugthuung als zum Heil des attischen Landes, des
Landes der Menschlichkeit, das den Unglücklichen schützt und
aufnimmt 2), und für immer seine Segenskraft festhalten wird 3).
Wie es einst der Gottheit gefallen hat, den Schuldlosen in
Frevel und Leiden zu verstricken, so gefällt es ihr nun, den
Leidgeschlagenen, ohne neues und hohes Verdienst von seiner
Seite, zu übermenschlichem Glückesloose zu erhöhen 4). An
ihm geschieht ein göttliches Wunder, dessen innerer Veran-
anlassung nachzuforschen nicht frommt.

so nachdrücklich hervorgehoben, damit seine Erhöhung zum Heros
nicht einen Schuldbeladenen getroffen zu haben scheine. Aber positive
Tugenden leiht ihm der Dichter im Oed. Col. nicht, weit weniger als im
Oed. Tyr.
1) Man braucht nur unbefangen das Stück zu lesen, um zu sehn,
dass dieser wilde zornige mitleidlose, den Söhnen gräulich fluchende, der
Vaterstadt Unglück rachgierig vorausgeniessende Greis nichts hat von dem
„tiefen Gottesfrieden“, der „Verklärung des frommen Dulders“, welche die
herkömmliche Litterarexegese zumeist bei ihm wahrnehmen möchte. Der
Dichter, nicht gewohnt, mit faden Beschwichtigungsphrasen sich die Wirk-
lichkeit des Lebens zu verhängen, hat deutlich wahrgenommen, wie Un-
glück und Noth den Menschen nicht zu „verklären“ sondern herabzu-
drücken und unedel zu machen pflegen. Fromm ist sein Oedipus (er war
es von jeher, auch im O. R.), aber verwildert, ἠγρίωται ganz wie Philoktet
(Phil. 1321) in seinem Elend.
2) Humanität Athens und seines Königs: 562 ff.; 1125 ff.
3) Immer wieder wird es hervorgehoben, dass die Ansiedlung des
Oedipus unter attischem Boden den Athenern zum Heile, den Thebanern
zum Nachtheil gereichen solle (so hat es Apolls Orakel bestimmt): 92 f;
287 f.; 402; 409 ff.; 576 ff.; 621 ff. Der kostbare Besitz soll daher ver-
heimlicht werden (wie so oft Heroengräber: s. oben p. 152): 1520 ff.
Diese Erhöhung des Oedipus zum σωτήρ für Attika (459 f.) ist dem Dichter
offenbar das, was dem ganzen Mysterium, das er aufführen lässt, Sinn
und Wichtigkeit giebt.
4) νῦν γὰρ ϑεοί σ̕ ὀρϑοῦσι, πρόσϑε δ̕ ὤλλυσαν. 394. Jetzt tragen die
Götter ὥραν τινά für Oedipus (385). Nach vielen πήματα πάλιν σφε δαίμων
δίκαιος αὔξοι (ἄν) 1565 f. Also Wohlthat nach langer Misshandlung; Ab-
wechslung, aber keine mit Recht in Anspruch zu nehmende Belohnung
oder Entschädigung. Alles ist Gnade.
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[536/0552] rachgierig, starr und eigensüchtig, durch sein Unglück nicht geläutert, sondern verwildert 1). Dennoch erhöht ihn die Gott- heit zum ewig lebendigen Heros, minder fast ihm selbst zu seliger Genugthuung als zum Heil des attischen Landes, des Landes der Menschlichkeit, das den Unglücklichen schützt und aufnimmt 2), und für immer seine Segenskraft festhalten wird 3). Wie es einst der Gottheit gefallen hat, den Schuldlosen in Frevel und Leiden zu verstricken, so gefällt es ihr nun, den Leidgeschlagenen, ohne neues und hohes Verdienst von seiner Seite, zu übermenschlichem Glückesloose zu erhöhen 4). An ihm geschieht ein göttliches Wunder, dessen innerer Veran- anlassung nachzuforschen nicht frommt. 4) 1) Man braucht nur unbefangen das Stück zu lesen, um zu sehn, dass dieser wilde zornige mitleidlose, den Söhnen gräulich fluchende, der Vaterstadt Unglück rachgierig vorausgeniessende Greis nichts hat von dem „tiefen Gottesfrieden“, der „Verklärung des frommen Dulders“, welche die herkömmliche Litterarexegese zumeist bei ihm wahrnehmen möchte. Der Dichter, nicht gewohnt, mit faden Beschwichtigungsphrasen sich die Wirk- lichkeit des Lebens zu verhängen, hat deutlich wahrgenommen, wie Un- glück und Noth den Menschen nicht zu „verklären“ sondern herabzu- drücken und unedel zu machen pflegen. Fromm ist sein Oedipus (er war es von jeher, auch im O. R.), aber verwildert, ἠγρίωται ganz wie Philoktet (Phil. 1321) in seinem Elend. 2) Humanität Athens und seines Königs: 562 ff.; 1125 ff. 3) Immer wieder wird es hervorgehoben, dass die Ansiedlung des Oedipus unter attischem Boden den Athenern zum Heile, den Thebanern zum Nachtheil gereichen solle (so hat es Apolls Orakel bestimmt): 92 f; 287 f.; 402; 409 ff.; 576 ff.; 621 ff. Der kostbare Besitz soll daher ver- heimlicht werden (wie so oft Heroengräber: s. oben p. 152): 1520 ff. Diese Erhöhung des Oedipus zum σωτήρ für Attika (459 f.) ist dem Dichter offenbar das, was dem ganzen Mysterium, das er aufführen lässt, Sinn und Wichtigkeit giebt. 4) νῦν γὰρ ϑεοί σ̕ ὀρϑοῦσι, πρόσϑε δ̕ ὤλλυσαν. 394. Jetzt tragen die Götter ὥραν τινά für Oedipus (385). Nach vielen πήματα πάλιν σφε δαίμων δίκαιος αὔξοι (ἄν) 1565 f. Also Wohlthat nach langer Misshandlung; Ab- wechslung, aber keine mit Recht in Anspruch zu nehmende Belohnung oder Entschädigung. Alles ist Gnade. 4) so nachdrücklich hervorgehoben, damit seine Erhöhung zum Heros nicht einen Schuldbeladenen getroffen zu haben scheine. Aber positive Tugenden leiht ihm der Dichter im Oed. Col. nicht, weit weniger als im Oed. Tyr.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/552>, abgerufen am 22.11.2024.