alle Mittel seiner herzbewegenden Kunst ein, um das unver- schuldete Leiden, den Wahn wohlmeinender aber beschränkter Einsicht, die seitab vom erstrebten Ziele irren muss, mitleiden- der Empfindung des Hörers tief einzuprägen. "Das bist du" empfindet selbst der Feind, wenn er den Edlen in verstörtem Sinne irren und freveln sieht 1). Was hier die Starken, die Weisen, die Guten und Freundlichen ohne ihre Schuld betrifft, das kann auf jeden aus menschlischem Geschlecht herabfahren. So sind der Menschheit die Loose geworfen. Um die Nichtig- keit und das Leid des Lebens, um sein kurzes Glück und die Unsicherheit seines Friedens erhebt sich in unvergesslichen Versen die Klage 2). Sie tönt in einem Klang der Entsagung aus, der die Grundstimmung des Dichters anschlägt. Aber es bleibt ein herber Geschmack zurück.
Es liesse sich denken, dass einer Sinnesweise, die auf einen Ausgleich zwischen Werth und Thaten des Menschen und seinem Schicksal im irdischen Leben verzichtet, es um- somehr Bedürfniss gewesen sein möge, die Hoffnung auf eine alles gut machende Gerechtigkeit in einem zukünftigen Da- sein bei sich und anderen zu kräftigen. Aber der Dichter lässt wenig von einem solchen Bedürfniss verspüren. Der Ge- danke an das, was nach dem Tode kommen könne, ist in ihm nicht von besonderer Lebhaftigkeit. Den Handelnden und Leidenden in seinen Dramen wird er nirgends zum bestimmen- den Motiv ihres Verhaltens 3).
1) Odysseus beim Anblick des wahnsinnigen Aias: -- epoiktiro de nin dustenon onta kaiper onta dusmene, othounek ate sugkatezeuktai kake, ouden to toutou mallon e toumon skopon; oro gar emas ouden ontas allo plen eidol osoiper zomen, e kouphen skian. Ai. 121 ff.
2) io geneai broton ktl. O. R. 1186 ff. ostis tou pleonos merous khrezei -- O. C. 1211--1237. Vgl. fr. 12. 535. 536. 588. 859. 860.
3) Auch der Antigone nicht, wie es bei flüchtiger und isolirender Betrachtung solcher Verse wie Antig. 73 ff. scheinen könnte. Das ganze Drama lehrt, dass Antigone den agrapta kasphale theon nomima und dem Antriebe ihrer eigenen Liebesnatur folgt durchaus ohne Rücksicht auf das was auf Erden und ohne Seitenblick auf das was drüben sich aus ihrer "frommen Frevelthat" ergeben könne.
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alle Mittel seiner herzbewegenden Kunst ein, um das unver- schuldete Leiden, den Wahn wohlmeinender aber beschränkter Einsicht, die seitab vom erstrebten Ziele irren muss, mitleiden- der Empfindung des Hörers tief einzuprägen. „Das bist du“ empfindet selbst der Feind, wenn er den Edlen in verstörtem Sinne irren und freveln sieht 1). Was hier die Starken, die Weisen, die Guten und Freundlichen ohne ihre Schuld betrifft, das kann auf jeden aus menschlischem Geschlecht herabfahren. So sind der Menschheit die Loose geworfen. Um die Nichtig- keit und das Leid des Lebens, um sein kurzes Glück und die Unsicherheit seines Friedens erhebt sich in unvergesslichen Versen die Klage 2). Sie tönt in einem Klang der Entsagung aus, der die Grundstimmung des Dichters anschlägt. Aber es bleibt ein herber Geschmack zurück.
Es liesse sich denken, dass einer Sinnesweise, die auf einen Ausgleich zwischen Werth und Thaten des Menschen und seinem Schicksal im irdischen Leben verzichtet, es um- somehr Bedürfniss gewesen sein möge, die Hoffnung auf eine alles gut machende Gerechtigkeit in einem zukünftigen Da- sein bei sich und anderen zu kräftigen. Aber der Dichter lässt wenig von einem solchen Bedürfniss verspüren. Der Ge- danke an das, was nach dem Tode kommen könne, ist in ihm nicht von besonderer Lebhaftigkeit. Den Handelnden und Leidenden in seinen Dramen wird er nirgends zum bestimmen- den Motiv ihres Verhaltens 3).
2) ἰὼ γενεαὶ βροτῶν κτλ. O. R. 1186 ff. ὅστις τοῦ πλέονος μέρους χρῄζει — O. C. 1211—1237. Vgl. fr. 12. 535. 536. 588. 859. 860.
3) Auch der Antigone nicht, wie es bei flüchtiger und isolirender Betrachtung solcher Verse wie Antig. 73 ff. scheinen könnte. Das ganze Drama lehrt, dass Antigone den ἄγραπτα κἀσφαλῆ ϑεῶν νόμιμα und dem Antriebe ihrer eigenen Liebesnatur folgt durchaus ohne Rücksicht auf das was auf Erden und ohne Seitenblick auf das was drüben sich aus ihrer „frommen Frevelthat“ ergeben könne.
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schuldete Leiden, den Wahn wohlmeinender aber beschränkter
Einsicht, die seitab vom erstrebten Ziele irren muss, mitleiden-
der Empfindung des Hörers tief einzuprägen. „Das bist du“
empfindet selbst der Feind, wenn er den Edlen in verstörtem
Sinne irren und freveln sieht 1). Was hier die Starken, die
Weisen, die Guten und Freundlichen ohne ihre Schuld betrifft,
das kann auf jeden aus menschlischem Geschlecht herabfahren.
So sind der Menschheit die Loose geworfen. Um die Nichtig-
keit und das Leid des Lebens, um sein kurzes Glück und die
Unsicherheit seines Friedens erhebt sich in unvergesslichen
Versen die Klage 2). Sie tönt in einem Klang der Entsagung
aus, der die Grundstimmung des Dichters anschlägt. Aber es
bleibt ein herber Geschmack zurück.
Es liesse sich denken, dass einer Sinnesweise, die auf
einen Ausgleich zwischen Werth und Thaten des Menschen
und seinem Schicksal im irdischen Leben verzichtet, es um-
somehr Bedürfniss gewesen sein möge, die Hoffnung auf eine
alles gut machende Gerechtigkeit in einem zukünftigen Da-
sein bei sich und anderen zu kräftigen. Aber der Dichter
lässt wenig von einem solchen Bedürfniss verspüren. Der Ge-
danke an das, was nach dem Tode kommen könne, ist in ihm
nicht von besonderer Lebhaftigkeit. Den Handelnden und
Leidenden in seinen Dramen wird er nirgends zum bestimmen-
den Motiv ihres Verhaltens 3).
1) Odysseus beim Anblick des wahnsinnigen Aias: — ἐποικτίρω δέ
νιν δύστηνον ὄντα καίπερ ὄντα δυσμενῆ, ὁϑούνεκ̕ ἄτῃ συγκατέζευκται κακῇ,
οὐδὲν τὸ τούτου μᾶλλον ἢ τοὐμὸν σκοπῶν· ὁρῶ γὰρ ἡμᾶς οὐδὲν ὄντας ἄλλο
πλὴν εἴδωλ̕ ὅσοιπερ ζῶμεν, ἢ κούφην σκιάν. Ai. 121 ff.
2) ἰὼ γενεαὶ βροτῶν κτλ. O. R. 1186 ff. ὅστις τοῦ πλέονος μέρους χρῄζει
— O. C. 1211—1237. Vgl. fr. 12. 535. 536. 588. 859. 860.
3) Auch der Antigone nicht, wie es bei flüchtiger und isolirender
Betrachtung solcher Verse wie Antig. 73 ff. scheinen könnte. Das ganze
Drama lehrt, dass Antigone den ἄγραπτα κἀσφαλῆ ϑεῶν νόμιμα und dem
Antriebe ihrer eigenen Liebesnatur folgt durchaus ohne Rücksicht auf das
was auf Erden und ohne Seitenblick auf das was drüben sich aus ihrer
„frommen Frevelthat“ ergeben könne.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/547>, abgerufen am 16.02.2025.
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