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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Einfach weil es so der Wille der Gottheit war 1), musste
Oedipus, unbewusst und schuldlos, den Vater erschlagen, die
Mutter zum Weib nehmen, sich selbst in tiefstes Elend
stürzen.

So leitet aus dem Verborgenen die stärkere Hand der
Gottheit das menschliche Schicksal, Willen und Thun der
Menschen nach ihren Absichten. Das Problematische des
Menschenlebens, das Missverhältniss zwischen persönlicher
Schuld und Leiden, das tägliche Erfahrung vor Augen stellt,
schien dem Dichter durch diese Vorstellung begreiflicher zu
werden. Er lehrt diese Fügungen einer höheren Gewalt mit
Ergebung hinzunehmen. Er selbst ist von den specifisch
Frommen 2), denen die Wahrnehmung des Götterwillens genügt,
um ihre Verehrung aufzurufen, eine Rechtfertigung dieses
mächtigen Willens nach menschlichen Begriffen von Sittlichkeit
und Güte nicht Bedürfniss ist 3). Die Heiligkeit dieses gött-
lichen Wollens mag vorausgesetzt werden, aber es bedarf nicht
ihres Nachweises für menschliche Prüfung; ja auch wo in der
Wahrung ihrer Vorrechte vor den Menschen, deren erste
Pflicht Anerkennung der Schranken ihres Dürfens und Kön-
nens ist, Grausamkeit und kalte Rachsucht der Gottheit offen
hervortritt (wie in dem Verhalten der Athene im "Aias" 4),

1) Den Grund und Sinn dieses Willens lernen wir nicht kennen,
nicht im Oed. Tyr., auch nicht in den nachträglich angestellten Betrach-
tungen des Oed. Col. Klar wird dort nur die völlige Schuldlosigkeit des
Oedipus, über den Grund des Götterwillens, der ihn in alle jene Gräuel
hineinstiess, weiss der Dulder nur zu sagen: theois gar outo en philon, takh
an ti meniousin eis genos palai (964 f.). Hier findet denn moderne Um-
deutung der Alten die "Wahrung einer sittlichen Weltordnung" als Motiv
des Götterwillens ausgesprochen.
2) kai gar en ton theosebestaton Schol. El. 831.
3) fr. 226: sophos gar oudeis plen on an tima theos. all eis theon
s oronta, kan exo dikes khorein keleue, keis odoiporein khreon. aiskhron
gar ouden on uphegountai theoi.
4) Aias hat die Göttin gereizt, indem er sich vermaass, ihrer Hilfe
nicht zu bedürfen. Damit hat er sich asterge theas orgen (776) zugezogen;
sie macht ihn wahnsinnig, damit er erkenne ten theon iskhun ose (118).
Ihre Uebermacht, die Thorheit des Menschen, diese zu unterschätzen,
Rohde, Seelencult. 34

Einfach weil es so der Wille der Gottheit war 1), musste
Oedipus, unbewusst und schuldlos, den Vater erschlagen, die
Mutter zum Weib nehmen, sich selbst in tiefstes Elend
stürzen.

So leitet aus dem Verborgenen die stärkere Hand der
Gottheit das menschliche Schicksal, Willen und Thun der
Menschen nach ihren Absichten. Das Problematische des
Menschenlebens, das Missverhältniss zwischen persönlicher
Schuld und Leiden, das tägliche Erfahrung vor Augen stellt,
schien dem Dichter durch diese Vorstellung begreiflicher zu
werden. Er lehrt diese Fügungen einer höheren Gewalt mit
Ergebung hinzunehmen. Er selbst ist von den specifisch
Frommen 2), denen die Wahrnehmung des Götterwillens genügt,
um ihre Verehrung aufzurufen, eine Rechtfertigung dieses
mächtigen Willens nach menschlichen Begriffen von Sittlichkeit
und Güte nicht Bedürfniss ist 3). Die Heiligkeit dieses gött-
lichen Wollens mag vorausgesetzt werden, aber es bedarf nicht
ihres Nachweises für menschliche Prüfung; ja auch wo in der
Wahrung ihrer Vorrechte vor den Menschen, deren erste
Pflicht Anerkennung der Schranken ihres Dürfens und Kön-
nens ist, Grausamkeit und kalte Rachsucht der Gottheit offen
hervortritt (wie in dem Verhalten der Athene im „Aias“ 4),

1) Den Grund und Sinn dieses Willens lernen wir nicht kennen,
nicht im Oed. Tyr., auch nicht in den nachträglich angestellten Betrach-
tungen des Oed. Col. Klar wird dort nur die völlige Schuldlosigkeit des
Oedipus, über den Grund des Götterwillens, der ihn in alle jene Gräuel
hineinstiess, weiss der Dulder nur zu sagen: ϑεοῖς γὰρ οὕτω ἦν φίλον, τάχ̕
ἄν τι μηνίουσιν εἰς γένος πάλαι (964 f.). Hier findet denn moderne Um-
deutung der Alten die „Wahrung einer sittlichen Weltordnung“ als Motiv
des Götterwillens ausgesprochen.
2) καὶ γὰρ ἦν τῶν ϑεοσεβεστάτων Schol. El. 831.
3) fr. 226: σοφὸς γὰρ οὐδεὶς πλὴν ὃν ἂν τιμᾷ ϑεός. ἀλλ̕ εἰς ϑεόν
σ̕ ὁρῶντα, κἂν ἔξω δίκης χωρεῖν κελεύῃ, κεῖσ̕ ὁδοιπορεῖν χρεών. αἰσχρὸν
γὰρ οὐδὲν ὧν ὑφηγοῦνται ϑεοί.
4) Aias hat die Göttin gereizt, indem er sich vermaass, ihrer Hilfe
nicht zu bedürfen. Damit hat er sich ἀστεργῆ ϑεᾶς ὀργήν (776) zugezogen;
sie macht ihn wahnsinnig, damit er erkenne τὴν ϑεῶν ἰσχὺν ὅση (118).
Ihre Uebermacht, die Thorheit des Menschen, diese zu unterschätzen,
Rohde, Seelencult. 34
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[529/0545] Einfach weil es so der Wille der Gottheit war 1), musste Oedipus, unbewusst und schuldlos, den Vater erschlagen, die Mutter zum Weib nehmen, sich selbst in tiefstes Elend stürzen. So leitet aus dem Verborgenen die stärkere Hand der Gottheit das menschliche Schicksal, Willen und Thun der Menschen nach ihren Absichten. Das Problematische des Menschenlebens, das Missverhältniss zwischen persönlicher Schuld und Leiden, das tägliche Erfahrung vor Augen stellt, schien dem Dichter durch diese Vorstellung begreiflicher zu werden. Er lehrt diese Fügungen einer höheren Gewalt mit Ergebung hinzunehmen. Er selbst ist von den specifisch Frommen 2), denen die Wahrnehmung des Götterwillens genügt, um ihre Verehrung aufzurufen, eine Rechtfertigung dieses mächtigen Willens nach menschlichen Begriffen von Sittlichkeit und Güte nicht Bedürfniss ist 3). Die Heiligkeit dieses gött- lichen Wollens mag vorausgesetzt werden, aber es bedarf nicht ihres Nachweises für menschliche Prüfung; ja auch wo in der Wahrung ihrer Vorrechte vor den Menschen, deren erste Pflicht Anerkennung der Schranken ihres Dürfens und Kön- nens ist, Grausamkeit und kalte Rachsucht der Gottheit offen hervortritt (wie in dem Verhalten der Athene im „Aias“ 4), 1) Den Grund und Sinn dieses Willens lernen wir nicht kennen, nicht im Oed. Tyr., auch nicht in den nachträglich angestellten Betrach- tungen des Oed. Col. Klar wird dort nur die völlige Schuldlosigkeit des Oedipus, über den Grund des Götterwillens, der ihn in alle jene Gräuel hineinstiess, weiss der Dulder nur zu sagen: ϑεοῖς γὰρ οὕτω ἦν φίλον, τάχ̕ ἄν τι μηνίουσιν εἰς γένος πάλαι (964 f.). Hier findet denn moderne Um- deutung der Alten die „Wahrung einer sittlichen Weltordnung“ als Motiv des Götterwillens ausgesprochen. 2) καὶ γὰρ ἦν τῶν ϑεοσεβεστάτων Schol. El. 831. 3) fr. 226: σοφὸς γὰρ οὐδεὶς πλὴν ὃν ἂν τιμᾷ ϑεός. ἀλλ̕ εἰς ϑεόν σ̕ ὁρῶντα, κἂν ἔξω δίκης χωρεῖν κελεύῃ, κεῖσ̕ ὁδοιπορεῖν χρεών. αἰσχρὸν γὰρ οὐδὲν ὧν ὑφηγοῦνται ϑεοί. 4) Aias hat die Göttin gereizt, indem er sich vermaass, ihrer Hilfe nicht zu bedürfen. Damit hat er sich ἀστεργῆ ϑεᾶς ὀργήν (776) zugezogen; sie macht ihn wahnsinnig, damit er erkenne τὴν ϑεῶν ἰσχὺν ὅση (118). Ihre Uebermacht, die Thorheit des Menschen, diese zu unterschätzen, Rohde, Seelencult. 34

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/545>, abgerufen am 25.11.2024.